20. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2017

Eisenacher Luther-Sichten

von Alfred Askanius

Im Oktober 2013 mutmaßte Hermann-Peter Eberlein im Blättchen angesichts der bischöflichen überkonfessionellen Umarmungen für das reformatorische Jubeljahr 2017 Arges: „Luther wird wieder katholisch und Rom behält den Sieg.“ Schulterzuckend könnte man das mit einer Anmerkung im Feuilleton abhaken, der wortgewaltige Reformator verstummte 1546. Aber mit dem Namen Martin Luthers sind Umwälzungen verbunden, die Europa letztendlich mit Macht und Gewalt und unendlichen Strömen Blut in die Moderne stießen. Es berührt selbst einen bekennenden Atheisten merkwürdig, wenn eine protestantische Kirche, die auch ihn prägte, ihr Schiffchen einem Schlingerkurs, der leicht auf die Riffe führen kann, unterwirft. Schauen wir uns also im Reformationsjahr 2017 das Treiben etwas genauer an. Gehen wir an die Orte des Geschehens.
Beginnen wir mit Eisenach und gehen in das dortige Theater. Schließlich waren es die Künste und die Fürsten, die die Reformation nachhaltig im öffentlichen Bewusstsein zumindest des deutschen Nordens einzementierten. Wobei Letztere Erstere lange Zeit finanzierten. Unseren aktuellen Fürsten auf Zeit sind die Künste häufig ein Dorn im Auge. Man schiebt gerne fiskalische Gründe vor, um sich ihrer zu entledigen und nennt das dann Reform. Ein moderates Rupfen hatte das thüringische Kultusministerium geplant. „Perspektive 2025“ nennt sich das 2015 von Kulturminister Benjamin Hoff (DIE LINKE) mit Staatssekretärin Babette Winter (SPD) erarbeitete Papier, das das Landestheater de facto auf eine mit Nordhausen gemeinsam zu betreibende Ballettcompagnie reduziert hätte. In diesem Zusammenhang muss man wohl auch den für Eisenacher Verhältnisse extremen Aufwand sehen, mit dem sich alle Sparten des kleinen Hauses dem Reformationsjubiläum stellen.
Seit Juni 2013 läuft dort ein Musical-Projekt von Erich A. Radke und Tatjana Rese „Luther! Rebell wider Willen“. Vom 5. Mai an wird es allein in Eisenach bis zum 30. Juli 17 Mal auf dem Spielplan stehen! Inzwischen wird es anderswo nachgespielt. Die Landesbühne Nord aus Wilhelmshaven beglückt damit zum Beispiel das nördliche Niedersachsen. taz-Autor Jens Fischer schrieb von „Klangkleister“ und „Holterdipoltermusik“. Er monierte, dass die „Reformation als historisches Beruhigungs- statt selbstkritisches Aufputschmittel“ dargestellt werde. Das ist Unsinn. Selbst in Berlin führte „Les Misérables“ nicht zu einer Wiederaufführung der 48er Revolution. Wenn die Eisenacher mit Luther ihre Musiktheatersparte halten können, darf man sie zu ihrem Griff in die Historienkitschkiste nur beglückwünschen!
Schwieriger ist es mit dem Ballett. Die Compagnie umfasst immerhin 16 Tänzerinnen und Tänzer und wird seit 2009 von Andris Plucis geleitet. Auch Plucis, in seinem choreographischen Stil von William Forsythe geprägt, konnte sich der Lutherei nicht entziehen. Am 8. April brachte er im Großen Haus seinen Ballett-Abend „Re: Formation“ zur Uraufführung. Musikalisch setzte er seine Tänzer einer Melange aus, bestehend aus Auszügen von Philipp Glass‘ 3. Sinfonie, gemischt mit Telemann, Mendelssohn-Bartholdy (glücklicherweise verkniff er sich die „Reformations-Sinfonie“), Rudolf Hild, Janáček und dem in Eisenach unvermeidlichen Johann Sebastian Bach. Die Landeskapelle unter Andreas Fellner präsentierte das Ganze einigermaßen lustlos und teilweise schludrig. Das kennt man auch von bedeutenderen Orchestern, wenn auf deren Dienstplänen Ballettbegleitung verordnet wird. Die inhaltliche Linienführung des Abends ist allerdings problematisch. Plucis stemmte ein großes Thema – und hat sich gründlich verhoben. Er wollte „in einem vitalen wie sinnlichen Bilderreigen“ den „dogmatischen Dualismus von Körper und Geist aufgeben“ und den reformatorischen Gedanken neu beleben. So verschwurbelt diese Sprache daherkommt, so mysteriös war der Abend. Zu Beginn erschienen insgesamt 13 Luther-Klone, und jeder nagelte einen großen Zettel an eine Holzwand (die Thesen?), um sich dann der Prediger-Kluft zu entledigen und im schwarzen Trikot mit überbetontem weißen Rückenreißverschluss („memento mori“?) das Publikum zu interpretatorischen Verzweiflungstaten zu treiben. Es gibt durchaus bezaubernde Partien – ein schönes Pas de deux mit Angelo Vincenzo Egarese und Zanna Cornelis zu Telemanns B-Dur Violinen-Fantasie –, aber auch Ensembleauftritte, die an „Riverdance“ erinnern, allerdings ohne die phänomenale Körperpräsenz der Iren, von deren überwältigender Akustik ganz zu schweigen. Stepptanz in Schläppchen funktioniert nicht. Der Rezensent der Thüringischen Landeszeitung war sich nicht sicher, „ob die Aufführung gescheitert ist – oder der Berichterstatter an ihr.“ Denkbar wäre beides, räumte er aufrichtig ein. Wir geben ihm recht.
Auch das Eisenacher Schauspiel lieferte ein Auftragswerk zum Jubiläum. Der Hamburger Dramatiker und Pop-Blogger David Gieselmann schrieb mit „Ablass“ eine „moderne Familienkomödie“. Angekündigt wird eine „Glaubenskomödie über die Suche nach transzendentalen Wahrheiten“.
Lassen wir sie suchen, wir brauchen jetzt frische Luft und begeben uns auf die Wartburg, jene nach Neuschwanstein wohl deutscheste aller deutschen Burgen, ein wahrer Weiheort der Nation. Da pustet ein frischer Wind um die Mauern, der tut nach soviel Bedeutung im Saale gut. Martin Luther selbst ist noch nicht da. Er kommt erst am 4. Mai, wie an einem Zaun vor der Replik eines mittelalterlichen Reisewagens angeschlagen steht. Daher haben wir Gelegenheit darüber nachzusinnen, welche landesväterliche Gnade darin verborgen liegt, acht Jahre im erbärmlich kalten Verlies des Südturmes lebendigen Leibes zu verfaulen, anstelle kurzerhand mit dem Schwert vom Leben zum Tode befördert zu werden. Ersteres widerfuhr dem Täufer Fritz Erbe, der das Luthersche Evangelium zu wörtlich nahm und auf der Wartburg 1548 starb. Ab 4. Mai kann man dann hier eine der drei großen „Nationalen Sonderausstellungen“ besichtigen. Die auf der Wartburg steht unter dem Titel „Luther und die Deutschen“ und verspricht bis zum 5. November „überraschende Sichten auf die deutsche und europäische Geschichte“. Warum man die Schau nicht bis zum 11. November öffnet, ist mir ein Rätsel. Das ist der Martinstag, also der Namenstag unseres Bruders Martinus, und die Eisenacher Gastronomen würden treffliche Lutherschmäuse bereiten. Mit Thüringer Klößen natürlich, die besten fand ich im Café „B-a-c-h“ am Frauenplan. Ein Traum von Kloß mit überraschend guter Sauce!
Einen kleinen Vorgeschmack auf die „neuen Sichten“ kann man aber (auch bis zum 5. November) im auf modern sanierten Lutherhaus am Lutherplatz erleben. Der junge Luther soll hier als Schüler von 1498 bis 1501 gewohnt haben, weil der Hausfrau, der Patriziergattin Ursula Cotta, der liebliche Kurrendegesang des 15-Jährigen behagte. Für den war das auch prägend: „Es ist kein besser Ding auf Erden als Frauenliebe, wems mag werden.“ So schwärmte er noch in seinen Wittenberger Tischgesprächen. Wir nehmen mal an, Frau Katharina bezog das auf sich… Das Lutherhaus nun präsentiert eine Sonderausstellung „Ketzer, Spalter, Glaubenslehrer. Luther aus katholischer Sicht“. Die reduziert sich genaugenommen auf eine Blütenlese von auf den Reformator bezogenen Äußerungen prominenter Lutherfeinde der römischen Kirche aus dem 16. bis 18. Jahrhundert wie Thomas Murner, Johannes Eck und Johann Weislingen bis zu jüngsten Äußerungen katholischer Theologen und diverser Päpste. Den Ton bestimmte lange Johannes Cochlaeus mit seinen „Lutherkommentaren“ (1549): „Luther ist ein Kind des Teufels, vom Teufel besessen, voll Falschheit und Hoffart.“ Das muss nicht weiter erschrecken, die Lutherschen gingen mit den Päpstlichen auch nicht freundlicher um. Die Meucheleien des Dreißigjährigen Krieges wurden von Intellektuellen ideologisch vorbereitet. Wir kennen das von heutigen Kriegen. Spannender wird es, wenn Heiner Geißler (2015: „Als katholischer Priester steigerte sich Luthers Sündenangst ins absolut Krankhafte.“) der Kapuziner Raniero Cantalamessa gegenübergestellt wird. Der ist seit 1980 offizieller Prediger des päpstlichen Stuhles: „Luther kommt das Verdienst zu, die Wahrheit über die Gerechtigkeit Gottes wieder ans Licht gebracht zu haben, nachdem die christliche Verkündigung jahrhundertelang den Sinn dafür verloren hatte. Das ist es im Wesentlichen, was die Christenheit der Reformation verdankt.“ Man reibt sich verwundert die Augen … und wird dann mit einer Äußerung von Papst Franziskus aus dem Jahre 2016 konfrontiert: „Ich glaube, dass die Absichten Luthers nicht falsch waren. Er war ein Reformator. […] Heute sind wir Protestanten und Katholiken uns einig über die Rechtfertigungslehre: Zu diesem so wichtigen Punkt lag er nicht falsch.“ Es fehlt nur der Zusatz: Über alles andere kann man reden… Das ist ein Paradigmenwechsel!
Legt man dem Franziskus-Zitat den Reformationsbegriff Roms unter, nach dem diese eine grundsätzliche und permanent neu zu beginnende Aufgabe der Kirche sei, ist der Wittenberger auf geradezu perfekte Weise in eine Linie eingebettet, die das Konstanzer Konzil 1414–1418 als „causa reformationis“ vorgezeichnet hatte. Luther ist heimgeholt worden. Eberleins Prognosen von 2013 scheinen Gestalt anzunehmen: „Es gibt einen gewaltigen Haken bei all diesen Konsens- und Konvergenzbemühungen zwischen Katholiken und Lutheranern: Sie spalten den Protestantismus. Sie nehmen ihm seine Vielfalt. Und sie nehmen ihm seine Zukunft.
Das Jubeljahr wird nicht ohne Folgen bleiben.