16. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2013

Luther katholisch

von Hermann-Peter Eberlein

Man feiert Siege, nicht Niederlagen – es sei denn, man kann die eigene Niederlage in einen Sieg ummünzen, indem man den Sieger vereinnahmt.
Solches scheint sich gegenwärtig im Verhältnis von Protestanten und Katholiken anzudeuten, wenn es um die Feiern zum fünfhundertjährigen Jubiläum der Reformation geht. Da hat sich eine hochrangige lutherisch / Römisch-katholische Kommission für die Einheit, angeführt von dem finnischen lutherischen Bischof Eero Huovinen und dem katholischen Bischof Gerhard Ludwig Müller (seit 2012 Präfekt der römischen Glaubenskongregation), Gedanken zum gemeinsamen Reformationsgedenken im Jahr 2017 gemacht und dazu jüngst einen Bericht unter dem Titel Vom Konflikt zur Gemeinschaft veröffentlicht. Allein, dass vom Reformationsgedenken und nicht von Reformationsfeiern die Rede ist, bedeutet eine Zumutung an protestantisches Selbstbewusstsein. „Wenn im Jahr 2017 evangelische Christen den Jahrestag der Reformation feiern werden, feiern sie damit nicht die Spaltung der Kirche des Westens“, heißt es in Abschnitt 224 des Berichts lakonisch. Nein? War da etwa keine Kirchenspaltung? Wer die Kirchenspaltung nicht feiern will, sollte sich das Feiern ganz sparen – in genau diese Richtung zielt das Dokument, wenn es durchgängig vom Gedenken und nicht vom Feiern redet.
Nun kann man in der Tat fragen, was es da zu feiern gibt. Die kulturelle Spaltung des Abendlandes in einen katholischen und einen protestantischen Teil? Die unsägliche Intoleranz und Gewalt aller Beteiligten? Bartholomäusnacht und Prager Fenstersturz? Das Entstehen protestantischer Reiche und Territorien, deren Fürsten in Deutschland bis 1918 als summi episcopi, als oberste Bischöfe ihrer Untertanen, fungierten, kontrolliert durch keine Gegenmacht, wie sie der hohe Klerus in den katholischen Ländern immerhin meist noch darstellte?
Das alles sicher nicht. Und doch ist die reformatorische Bewegung, die Luther und Zwingli ausgelöst haben, auch ein Motor der Moderne geworden. Das Religiöse wurde radikal ent-institutionalisiert und in einer persönlichen Unbedingtheit gelebt, die den Subjektivitätsschub der europäischen Neuzeit erheblich befördert hat und zeitweise sicherlich sein Motor gewesen ist. Der Protestantismus hat zwar keine größere Affinität zur Aufklärung, zur Demokratie und zur Idee allgemeiner Menschenrechte als der Katholizismus, aber sein Verzicht auf eine zwischen Mensch und Gott vermittelnde hierarchische Organisation, sein rein funktionaler Kirchenbegriff trägt Keime einer Selbstsäkularisierung in sich, die Jahrhunderte später Früchte tragen sollte. Kant ist ohne Luther nicht denkbar, Hegel nicht ohne Kant, Ludwig Feuerbach (der sich oft genug ausdrücklich auf Luther bezieht) nicht ohne Hegel und Marx nicht ohne Feuerbach. Marx und Engels waren evangelisch. Nicht die aufgeklärte Gesellschaft, wohl aber die säkulare Gesellschaft ist ein ungewolltes Kind des Protestantismus, unehelicher Urenkel der Reformation. Und Kinder der Liebe sollte man lieben.
Solche Gedanken kann man freilich nicht erwarten, wenn sich Kommissionen von Amtskirchen zusammensetzen. Ihr Blick auf 2017 ist ein dezidiert kirchlicher: es geht um ein gemeinsames kirchliches Gedenken. Und da muss man offenbar auf den kleinsten gemeinsamen Nenner kommen. Wo jedoch könnte der anders liegen als beim jungen, beim katholischen Luther? Im Blick auf die jüngere katholische Lutherforschung formuliert die Kommission in Abschnitt 29: „Eine implizite Annäherung an Luthers Anliegen hat zu einer neuen Beurteilung seiner Katholizität geführt. Dies geschah im Kontext der Erkenntnis, dass es seine Absicht war, die Kirche zu reformieren, und nicht, die Kirche zu spalten.“ Diese Fokussierung des Protestantismus auf den Mönch Luther entspricht haargenau der Absicht Papst Benedikts, als er vor einigen Jahren als erster Papst überhaupt eine Stätte der Reformation besuchte: Er ging nicht nach Wittenberg, den Ort der lutherischen Reformation, nicht nach Zürich, nicht nach Genf – er ging nach Erfurt in eben jenes Kloster, wo der junge, der katholische Luther gelebt hatte. Mit ihm kann man sich arrangieren, nach dem Motto: Er wollte die Kirche reformieren – wir haben sie reformiert im II. Vaticanum. Wir Katholiken sind – das ist zweifellos richtig – protestantischer geworden, also könnt nun ihr kirchlicher werden: in dem Sinne, wie wir Kirche verstehen.
Das wird manifest, wenn die Kommission die unklare Haltung der Reformatoren zum Priester- und zum Bischofsamt höchst einseitig in Richtung des katholischen Verständnisses auflöst. So wird prompt eine der seltenen Stellen im Corpus der lutherischen Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts hervorgezogen, in der die Ordination sakramental verstanden wird (Abschnitt 169). In der Tat finden sich zwischen den beiden Kirchen viele Übereinstimmungen: im Bibelverständnis, in der Abendmahlslehre und an etlichen anderen Punkten. Die Missbräuche, die im Spätmittelalter die römische Kirche bestimmten, sind größtenteils überwunden, Missverständnisse ausgeräumt, Lehrverurteilungen obsolet. Das alles ist gut und die gemeinsame Erklärung in ihren darstellenden Teilen durchgängig solide erarbeitet und korrekt. Hinter die fünfzig Jahre ökumenischer Bemühungen, die – mindestens in Deutschland – das Verhältnis der großen Kirchen zueinander entkrampft haben, wollen wir nicht ernsthaft zurück.
Allein: Es gibt einen gewaltigen Haken bei all diesen Konsens- und Konvergenzbemühungen zwischen Katholiken und Lutheranern: Sie spalten den Protestantismus. Sie nehmen ihm seine Vielfalt. Und sie nehmen ihm seine Zukunft.
Sie spalten den Protestantismus. Der nämlich ist und war immer mehr als Luther und das Luthertum. Zum kirchlich verfassten Protestantismus, wie er im neuzeitlichen Europa wirkmächtig geworden ist, gehört das Reformiertentum mit seinen Wurzeln in Zürich und Genf, gehören die Unionskirchen in Deutschland, derzeit in der Union evangelischer Kirchen zusammengefasst, die auf die Kirchenunionen des frühen 19. Jahrhunderts zurückgehen. Sie haben 1973 auf dem Leuenberg bei Basel eine Gemeinschaft begründet, die ohne institutionelle Vereinigung und in Anerkenntnis aller bestehenden Unterschiede gut funktioniert und sich bewährt. So etwas ist für die römische Kurie undenkbar. Sie versucht  stattdessen, das Luthertum aus dieser Gemeinschaft herauszubrechen.
Sie nehmen ihm seine Vielfalt. Protestantismus ist immer mehr gewesen als kirchlicher Protestantismus. Vom Beginn der reformatorischen Bewegung an hat es Gruppen gegeben wie die Täufer, mystische Spiritualisten wie Sebastian Franck oder Antitrinitarier. In der Folge sind es gerade die Unorthodoxen gewesen wie Valentin Weigel oder Jakob Böhme, die die Geschichte des Geistes besonders geprägt haben. Die Frömmigkeitsbewegung des Pietismus hatte zunächst durchaus antikirchliche Züge; der bedeutendste Aufklärer des deutschen Protestantismus war eben kein Kirchenmann, sondern Lessing. Die römische Kirche kann von dem allen nichts brauchen; Ratzinger hat genau diese Seiten der Moderne immer konsequent abgelehnt. Die katholischen Bischöfe verständigen sich stattdessen mit ihren lutherischen Kollegen und erreichen außerhalb ihrer engen Zirkel – niemanden.
Sie nehmen ihm seine Zukunft. Womit ich nicht die Zukunft des Protestantismus innerhalb der Grenzen der bloßen Kirchlichkeit meine – eine solche dürfte er auf lange Sicht kaum haben. Sondern jene säkulare Moderne, die wesentlich von ihm geprägt wurde und die sein wahres Erbe darstellt. Wer als Protestant gemeinsam mit Katholiken Reformationsgedenken begeht, muss die einzigartige Geschichte des Protestantismus negieren, die Heinrich Heine in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland und in der Romantischen Schule so grandios dargestellt hat: die von Luther bis zu den geistigen Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Seine eigene Geschichte.
In einem gemeinsamen Reformationsgedenken wird der Protestantismus auf den katholischen Luther reduziert. Er wird vereinnahmt. Luther wird wieder katholisch und Rom behält den Sieg. Konsequenterweise sollte Papst Franziskus daher nicht nur Luthers Exkommunikation aufheben, wie etwa Margot Käßmann fordert, sondern ihn 2017 auch gleich noch seligsprechen – auf wen könnte sich der gemeine Protestant dann noch berufen? Vielleicht auf den jüdischen Protestanten Heine, der für das Selbstbewusstsein des Protestantismus mehr getan hat, als jede Schmeichelei aus dem Vatikan es vermöchte.