von Renate Hoffmann
Die Fahrt beginnt im Polnischen, in Kostrzyn (Küstrin), an einem ungewöhnlich schönen Frühlingstag. Das Wetter schwankt zwischen zwei Monaten. Vom April holt es sich den kalten, grauverhangenen Morgen und tagsüber vom Mai milde Luft und einen wolkenlosen Himmel. Das Schiff, nicht zu groß, nicht zu klein, nimmt Neugierige auf, passionierte Ornithologen und Naturfreunde. Es legt ab und tuckert die Warta (Warthe) flussaufwärts. Eine fast uferlose, weite Wasserfläche breitet sich aus. Vorbei an kleinen Inseln und schmalen Landstreifen. Bäume und Büsche ragen aus dem Wasser. Ein Schwarm Kormorane fühlt sich gestört und flattert auf. Der Nationalpark „Ujście Warty“ (Warthemündung) zeigt seine Bilder und lässt seine Stimmen hören.
Es ist der jüngste Schutzpark Polens – gegründet im Jahr 2001 – und liegt an der westlichen Grenze des Landes; mit 80 Kilometern nur einen Steinwurf von Berlin entfernt. Die Warta durchfließt das Gebiet und wandelt die Fläche von etwa 8070 Hektar in eine vom Wasser bestimmte Auenlandschaft, ehe sie als Binnendelta bei Kostrzyn die Oder erreicht. Natürliche Flussarme, zahlreiche Altwässer und angelegte Kanäle schaffen ein Paradies für die Tier- und Pflanzenwelt. Zu allen Jahreszeiten ändert sich das Landschaftsbild und erinnert ein wenig an die Gemälde alter niederländischer Meister.
Die Einmaligkeit der Vogelwelt und die weitgedehnten Feuchtbereiche gaben Anlass zur Aufnahme des Parks in internationale Schutzbestimmungen. Darunter in die Ramsar-Konvention, das „Übereinkommen über Feuchtgebiete, insbesondere als Lebensräume für Wasser- und Watvögel von internationaler Bedeutung.“
Nachdem sich der Wartafluss vom Nordhang des Krakauer Juras durch das Land mäandert hat, unterteilt er den Nationalpark in das südlich gelegene Überschwemmungsgebiet, welches im Wesentlichen das Oderhochwasser auffängt – und in den sogenannten Nordpolder (Polder: eingedeichtes Gelände in der Nähe von Gewässern). Flaches Land an flachen Ufern, schilfbewachsen, mit Weiden und sauren Gräsern (Seggen) im Ried. Durch Überfluten der Feuchtwiesen im Herbst und Frühjahr können die Wasserstände im Jahreslauf bis zu vier Metern schwanken.
Das eigentliche Naturwunder aber ist der Vogelbestand. Etwa 270 Arten konnte man bisher beobachten. Ein Teil von ihnen nutzt das weitläufige Flussdelta auch als Brutstätte. Andere berühren es als Zugvögel. Saat- und Blässgänse halten hier zu vielen Tausenden Zwischenrast. Berechtigterweise schmückt nun die Saatgans das Wappen des Nationalparks. In den kalten Monaten versammeln sich vorwiegend Sing- und Höckerschwäne zum Überwintern. Im Sommer bevölkern Sing- und wasserliebende Vögel, Enten, Reiher und Störche den Park. Nun weiß man, weshalb das Gebiet „Die Vogelrepublik“ genannt wird.
Es wäre müßig, die 270 Vogelarten aufzählen zu wollen, doch einige von ihnen machen mich besonders neugierig. Vielleicht bekomme ich sie zu Gesicht oder höre ihren Gesang (wenn sie nicht gerade das Brutgeschäft verrichten): Der Große Brachvogel, Wachtelkönig und der Seeadler.
Ruhiges Gleiten auf dem Wasser. Der Morgenwind wirft kleine Wellen. – Nicht Vogelrufe oder Adlerschrei überraschen, eine Rotte Wildschweine läuft im Eiltempo durch das Röhricht; verschwindet im hohen Schilf, lässt sich wieder sehen und begleitet das Schiff eine Strecke. Gefallene Bäume am Ufer zeigen kunstvolle Strukturen. Schönheit im Vergehen. Die Spiegelung im Wasser doppelt ihr grafisches Bild. Geruch nach Holzfeuer weht von einem Gehöft herüber. Hühnergegacker und ein Storchennest auf dem Dach. Es ist belegt.
Ein Rauschen in der Luft. Die Kraniche ziehen. In geordneter Formation und mit schwerem Flügelschlag fliegen sie übers Wasser, die Vögel des Glücks und der Klugheit. Wo kommen sie her, wo wollen sie hin? – Über Nacht hat sich die Natur begrünt und erfreut Auge und Gemüt. Auf dem Deich sind Wanderer unterwegs und Radler und Reiter. Man winkt sich zu, gleichermaßen vom Frühlingsmorgen beschwingt. Elegant, grazilen Skulpturen gleich, stehen Silberreiher am Fluss. Wie vollkommen sie sind. – Ein Frachtschiff ist auf Talfahrt nach Szczecin (Stettin). Es bleibt das einzige Wassergefährt, dem wir begegnen.
Über das flache Wiesenland mit majestätischen Solitärbäumen und skurrilen Kopfweiden reicht der Blick bis zum Horizont. Dort sieht man den Turm der Johanniterkirche von Słońsk (Sonnenburg). Nach einem Stadtbrand zu Beginn des 19. Jahrhunderts sorgte Karl Friedrich Schinkel für Erneuerung von Turm und Dach. Die Schinkelsche Handschrift lässt sich auch aus der Ferne nicht verleugnen.
Schwäne brüten, und der Rote Milan versetzt die Möwen in Unruhe. „Hören Sie nur, die Goldammer singt“, sagt der Vogelkundige neben mir. Ein feines „tü-tü-tü“ und ein pfeifender Nachton sind zu vernehmen. Ich befrage den Herrn nach dem Großen Brachvogel, Wachtelkönig und Seeadler. „Den Haliaeetus albicilla werden wir wahrscheinlich treffen“, erwidert er, „Numenius arquata und Crex crex wohl kaum. Außerdem ist letzterer nachtaktiv, und jetzt scheint ja die Sonne.“ „??“ Am Uferrand liegt ein säuberlich benagter Baum. Hier war der Biber am Werk. – Den jubelnden Lerchengesang erkenne ich, auch ohne den lateinischen Namen des bescheidenen Vogels zu wissen. „Dort, dort sehen Sie ihn, den Haliaeetus!“, ruft mein Nachbar. Haliaeetus et cetera kann, der Größe nach, nur der Seeadler sein. In der Spitze eines kahlen Baumes sitzt er, breitet, mir zuliebe, seine Schwingen aus und segelt im Gleitflug davon. Machtvoll und erhaben. – Stock- und Krickenten im Wasser und vorjährige Krähennester auf hohem Geäst.
Der Tag geht zuende. Im beginnenden Dämmerlicht schiebt sich die Stadtsilhouette von Gorzόw Wielkopolski (Landsberg an der Warthe) ins Bild. Ob die Nachtigall, die Frühlingskünderin, ein Abendlied anstimmen wird?
Schlagwörter: Feuchtgebiete, Nationalpark „Ujście Warty“, Renate Hoffmann, Vogelwelt, Warthemündung