von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal ein kriegerischer Traumprinz und ein polyamouröses Herz-Schmerz-Dingens…
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Es war Kleists vorletztes großes Stück: Die seltsame Geschichte vom poetisch entrückten Prinzen von Homburg, der als soldatisch cooler Truppenführer in der Schlacht bei Fehrbellin wider kurfürstlichen Befehl gegen die Schweden vorprescht, deshalb vors Kriegsgericht kommt, zum Tode verurteilt wird, obwohl er den Preußen zum Sieg verhalf, und dessen verzweifeltes Gnadengesuch erst erhört wird, nachdem er das Urteil als rechtens anerkennt. – Ein Vierteljahr nach Vollendung des Scripts inszenierte Heinrich von Kleist, 34 Jahre alt, sein letztes großes Werk: den Selbstmord am Ufer des Wannsees.
Das in feierlich schöne Dichtkunst gegossene Drama eines sagen wir seelisch zwittrigen aristokratischen Jungspunds – einerseits ein der Welt entrückter, erst selig vom Paradies träumender, dann männlich mit dem Kriegsbeil hauender Egoshooter, anderseits der vor Verzweiflung und Angst schlotternde, demütig sich unterwerfende Untertan –, dieses komplexe Konstrukt aus Held und Antiheld darf man getrost als Vermächtnis des bei all seiner Versponnenheit hellsichtigen Autors nehmen, dem „auf Erden nicht zu helfen“ war.
BE-Chef Claus Peymann, der nach 18 Amtsjahren im Sommer abtreten wird, erwählte sich denn auch „Prinz Friedrich von Homburg“ – für ihn das schönste deutsche Schauspiel – als Abschiedsinszenierung. Es soll sein vermächtnishaft letztes Wort sein, das er als Regisseur von der deutschen Hauptstadt aus in die Welt schleudert.
Außerdem: Peymanns Ruhm als großer, einst das deutsche Theater politisch provokant und ästhetisch innovativ nachhaltig aufmischender Regisseur begann gleichfalls mit Kleist: 1975 in Stuttgart das „Käthchen von Heilbronn“ (auch so ein Traumtänzerstück aus glorioser Beseelung und martialischer Kriegerei); dann 1982 in Bochum zwischen Zirkus, Komödie, Blutsturz „Die Hermannsschlacht“. Und nun zum Schluss „Homburg“: ganz ohne Provokation – keine Springerstiefel, keine Nazikluft, keine himmelwärts idealisch fuchtelnden Arme. Aber auch ohne sonderliche Innovation – wie übrigens zuletzt alle Peymänner der Berliner Produktionszeit. Peymanns Wiener Burgtheater-Furor und erst recht der davor ließ sich nicht fortsetzen an der Spree, was tagtäglich an ihm nagt.
Man kann es auch anders sagen: Ein „Homburg“ ohne ausdrückliche Lesart – es sei denn, man nähme schon das totale Schwarz der Szene als eine solche. Ansonsten: Das Hohenzollern-Militär trampelt soldatisch brav und grundvernünftig durch seine Texte, und die Liebesglut der grundguten Prinzessin Natalie (Antonia Bill) zum Prinzen will auch nicht recht über die Rampe schwappen – so wie die Seelenqualen des schönen schlanken, auratischen Friedrich (Sabin Tambrea) nicht schwappen. Seltsam, diese kunstvoll in höhere Langeweile gebettete Peymannsche Regie-Reduktion – soll sich doch jeder selbst seinen Vers machen aufs Vorgeführte. Deshalb Beschränkung aufs perfekte Schau-Arrangement des Figurenarsenals, was wiederum das riesige BE-Stammpublikum begeistert.
Ist das nun die gesammelte Weisheit des alsbald 80-jährigen Altmeisters, der sein Leben lang die Weltdramatik durchforstete? Oder Demut? Oder schlicht Unlust am Herumdeuteln an klassischen Hochämtern? Oder etwa doch ein sturer, gar frecher Affront gegen nervende Flachgeist-Aktualisierungsmoden?
So ließ denn der außertheatralisch stets heftig dampfende Peymann in seiner neuen kühlen Regie-Nüchternheit Meditationen über die Abgründe der Verquickung des Phantastisch-Irren mit dem Geerdet-Realen souverän beiseite. Und öffnete auch nicht das geheimnisvolle, fein verschnürte Paket voller Psycho-Kuddelmuddel nebst sexuellem Pipapo. Soviel zum – vermeintlich? – Braven dieses gänzlich auf steiler Schräge und meist im Dunkel solide abgespulten Stücks.
Doch Peymann wäre nicht ein durchtriebener Theatraliker, hätte er nicht doch noch einen Knaller in petto. Ob der nun auf sein Konto geht oder auf das seines ingeniösen Bühnenbildners Achim Freyer, sei dahin gestellt. Jedenfalls gibt es ein von der Bühne bis hinauf in den Olymp (Saaldecke überm zweiten Rang) gespanntes Lichtseil, auf dessen dünndrahtiger Grundlage Prinz Homburg in die Höhe balanciert (nun nicht ganz bis zur Decke hinauf). Wacklige Angelegenheit. Wie eben das ganze Stück wackelt zwischen Sehnsuchtsglücktraum (Ideal) und blutrünstigem Schlachtenkrach (Realität).
Da tänzelt also zur Eröffnung dieser vergleichsweise kurzen Kleist-Veranstaltung Homburg somnambul in der Luft überm Paradiesgärtlein des Fehrbelliner Schlosses, aus dem ihn die biedere Hofgesellschaft brüsk herunterholt (Absturz ins Leben). Und das Finale geht so: Homburg, wie wir wissen, begnadigt, hängt wieder im Seil. Diesmal nicht als idealisch trunkener Schön-und-Feingeist, sondern kriegsgeil überm nächsten, überm neuen Schlachtfeld nach dem von Fehrbellin. Dazu ordentlich Kanonendonner aus dem Off. – Homburg als blind begeisterte, blöde Kriegsmaschine! Er knallt auf den nackten Bühnenboden. Blutend. Tot. Recht so.
Der „Prinz von Homburg“ bei Claus Peymann einfach ein Anti-Kriegsstück. Eine schlimme, eine so gesehen letztlich starke Sache! Na also. – Überflüssigerweise trällert zum elenden Finale als modische An- oder Abmache Popstar Cat Stevens bittersüß durch die Boxen „If you want to sing out, sing out“.
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„Die Liebe? – Da gibt’s nicht viel Neues. Sie tut immer noch weh, ist aber offenbar nach wie vor die beliebteste Freizeitbeschäftigung“, meint Patrick Wengenroth, der schlitzohrig unterhaltsame Studio-Schaubühne-Regisseur, der uns immer wieder aufs schönste überrascht mit geistreichen Spielchen, in denen er Trash und Kitsch, Pop- und Hochkulturelles fein oder auch grob verquirlt und die Chose obendrein garniert mit gängigem Singsang sowie philosophisch-politisch-soziologischen Links ins direkt Gegenwärtige. Sein Thema diesmal: Das Herz-Schmerz-Dingens.
Der Titel „Love hurts in tinder times“ annonciert das total Digitale, gefällt sich aber im kräftig Analog-Theatralischen. Es geht also durchweg althergebracht zu in dieser Eindreiviertel-Stunden-Performance. – Erst mal aber gibt Spielmeister Wengenroth gendermodisch im niedlichen Conchita-Kleidchen und in meterhohen Stöckelschuhen hinreißend ernst und fußorthopädisch geschunden das Motto vor: Mit dem aus Liebesqualen gekelterten Song der Pet Shop Boys „Love Is A Catastrophy“. Macht er/sie zum Küssen schön!
Dem Schmachtfetzen folgt im Factory-ähnlichen Bühnen-Setting die hingebungsvoll akkurate Demonstration einer Body-Painting-Aktion. Die drei wunderbaren Schauspieler Lise Risom Olsen, Andreas Schröders und Mark Waschke entledigen sich seelenruhig bis aufs letzte Höschen ihrer nichtssagenden Alltagskleidung, beschmieren sich gegenseitig, tauchen gemeinsam ins Farbbad und applizieren die blau-gelb-weißen Körperabdrücke (mit einem Schuss Rot dazwischen) auf Klarsichtfolien. Eine von kleinen queeren Knutschereien abgesehen unterkühlt erotische Aktion, die dekorativ-abstrakte Bilder liefert von den bunten Spuren diverser körperlicher Kontakte. Nett, aber nicht sonderlich aufregend oder gar erregend – doch wir sind ja im Theater, nicht in der Peepshow.
Dann kommt es zur ungeordneten Plauderei über zwischenmenschliches Hin und Her; also über Sehnsüchte, Schmerzen, Konkurrenzen, Eifersüchte – mithin so Sachen wie Freiheit und Begrenzung, Dominanz und Unterwerfung. Man wäre ja so gern total offen für alles und jeden (was „freie Liebe“ genannt wird oder „polyamourös“).
Aaaber: Man möchte sich dann doch wieder – hedonistisches Kalkül! – nicht gänzlich verschwenden und hingeben, ohne dass da was rausspringt (Geld, Sicherheit, Anerkennung). – „Auf eine gewisse Rendite achtet man schon“, sagt Wengenroth. Und meint, dass die Gefühle nie ganz frei sind von materiell oder immateriell Geschäftlichem. Und lässt schnell mal mit einem großen und pässlichen Schiller-Monolog das volle Programm Brustaufreißen ganz unironisch feiern – und mithin das hehre Ideal. Schließlich plaudern noch die Akteure aus ihren prall gefüllten Nähkästchen privater Erfahrungen. Zwischendurch aber singen sie – Amor sei Dank! – immer mal hingebungsvoll ihre Lieblings-Popsongs aus der schönen Jugendzeit, der Pubertät, der Postpubertät.
Zum Schluss und zum Nachdenken auf dem Nach-Hause-Weg ein kleiner Extra-Exkurs über die Freiheit mit ihren kritikwürdigen Seiten wie etwa schrankenlose Herrschaft des Geldes, der Märkte, des Handelns. Und wenn wir die freie Liebe womöglich genauso kritisch weil zerstörerisch sehen wie etwa die freien Märkte, wäre dann womöglich Schluss mit Lustig? Wie also soll man vernünftig Maß und Mitte halten, wenn besagte „Catastrophy“ über einen kommt? Oder gilt selbst in der Katastrophe der stets gern gerufene, zumindest vorübergehend beruhigende Satz: Es ist nicht so, wie es aussieht…
Schlagwörter: Berliner Ensemble, Claus Peymann, Heinrich von Kleist, Patrick Wengenroth, Querbeet, Reinhard Wengierek, Schaubühne