20. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal eine Flunder in der Bratpfanne, ein Schaf auf der Drehbühne, ein Blümchen für die Dienstmädchenfreundin…

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Fünf Minuten vor Weltuntergang. Was kann man da machen? Jedenfalls keine Panik. Also: Weiter so wie bisher auch immer. Das weiß Rebecca, die perfekte Hausfrau im zauberhaften Petticoat-Kleid unterm Cocktailschürzchen. Dabei schwappt schon bedrohlich die Sintflut unterm Küchenfenster vom Reihenhäuschen in der kleinbürgerlichen US-Provinz. Doch ihre brave Kleinbürgerlichkeit ist ja längst kaputt; die Familie desolat, der Ehemann getürmt, die Kinder entfremdet. Und aus der Nachbarschaft stürzen Gewalt, Elend, Tod in die feine Wohnküche.
Trotzdem: Frau Rebecca bewahrt in alttestamentarischer Festigkeit Haltung und Ordnung, auch wenn alle Welt drin (familiär) und draußen (außerfamiliär) kaputt ist und Untergang droht. Rebecca, unser helles hübsches Hausfrauenbild in der Brandung, knipst beschwingt das Radio an und lauscht den Fifties-Hits im Wunschkonzert – bis sich der irre Moderator am Mikro hörbar eine Kugel in den Schädel jagt. Rebecca jedoch beharrt trotz gigantischer Unbill im verinnerlichten Status der liebevoll sorgenden, praktischen Mutti. Schließlich schnappt sie sich aus den (Sint)Fluten eine Flunder und köchelt ein prima letztes (?) Abendmahl. Bloß ist keiner mehr da, der es futtern mag.
„Alles muss glänzen“, schrieb der 1978 in Michigan geborene Dramatiker und Drehbuchautor Noah Haidie. Sein Script wurde vor zwei Jahren vom Fachmagazin Theater heute zum besten ausländischen Stück gewählt. Man kann sagen, es ist ein religiöses Erbauungsstück („Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, dies drei; aber die Liebe…“). Damit es jedoch nicht allzu erbaulich wird, verpackt es der Autor vorsorglich in eine grelle Farce. Tolle Mischung! Boulevardeskes Hochglanzgetriebe, frech versetzt mit scharfen, schmutzigen Widerhaken, die das Philosophische mit dem Banalen raffiniert kurz schließen.
Prima, dass die private Berliner Produktionsgesellschaft Santinis das originelle Stück ans Kudamm-Theater geholt hat, was perfekt in sein rühmliches Konzept passt, ohne Subventionen als freier Produzent innovative Dramatik auf dem Boulevard zu präsentieren („nach Broadway- oder Westend-Art“). Deshalb auch spektakuläre Castings; diesmal TV-Publikumsliebling Maria Furtwängler, die smarte, menschenfreundliche Kommissarin Lindholm im Hannover-Tatort. Nur deshalb auch der gigantisch öffentliche Hype um die Premiere. Nebenbei bemerkt, täte es nicht nur Berlin gut, nähmen sich die Medien des hier gelegentlich stattfindenden großen Weltstadt-Theaters im gleichen Maße an.
Zurück zu „The Cleaning of Life“ in der saftigen Übersetzung („Alles muss glänzen“) von Brigitte Landes. Der Autor hat nicht nur einen scharfen Sinn für die Verquickung von allerweltlich überlebensnotwendiger Daseinsroutine und permanent apokalyptisch grundierter Daseinskatastrophe, sondern auch ein Händchen für geschliffene Dialoge.
Doch Regisseur Ilan Ronen wurde Noah Haidie in keiner Weise gerecht. Der 68jährige brachte dessen gewagt gegensätzliche dramatischen Konstrukte aus aberwitziger Komik und abgründigem Erschrecken einfach nicht zusammen. Und ließ folglich das Ensemble peinlich hilflos in der Luft baumeln, was sonderlich die Hauptdarstellerin zu spüren bekam. Entweder: Furtwängler war die fatale Fehlbesetzung. Oder: die Regie hätte ihr das peinsam nette Psychologieren rigoros austreiben und sie mutig zur wilden Groteskspielerin antreiben müssen. Was ihr womöglich überhaupt nicht liegt. Aber genau das wäre die Herausforderung gewesen, von der unser allseits beliebter Fernsehstar immerfort in sämtlichen Hauptstadt-Gazetten schwärmte (und träumt?).
Haidies grell, doch tiefsinnig philosophische, fluppig schillernde Fantasie müsste Entsetzen auslösen und Erstarren gleichermaßen. Doch nichts dergleichen. Bloß elende Langweile. Dazu eine Handvoll redlich sich abrackernde Spieler. Was für ein Versagen auf ganzer Linie – mit Ronen, es muss gesagt sein, auch wenn es weh tut, als Komplett-Versager. Da hilft auch nicht sein fern gesteuerter hübscher Plastik-Hai, der zur finalen Sintflut durch Maria-Rebeccas blitzblanke Küche fliegt, derweil unser taffes Housewife, an der die Welten- wie Daseinsstürme keinerlei Kratzer hinterlassen, das neue Fischrezept aus dem Damenmagazin probiert – die besagte Flunder.

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Zum schlimmen Schluss tritt Gottvater selbst auf als ferner Verwandter von Fozzi Bär aus der Muppet-Show und stammelt, nachdem die zehn üblichen Gebote des christlichen Ethikprogramms durchexerziert worden sind, ein ihm vom Entertainer Rocko Schamoni eigens gewidmetes, schöpfungskritisches elftes Gebot: „Du sollst dich nicht verheben!“ Der Schauspieler Ole Lagenpusch im weißen Zottelfell geht – das Publikum fest im Blick und mit sich an der kurzen Leine ein lebendes Opfer-Schaf (nicht Lamm!) – als Oberster Hirte heftig mit sich ins Gericht. „Wieso hab ich euch zu solchen Freaks gemacht? Tschuldigung! Ihr seid die maximale Sackgasse.“
Damit hat die DT-Uraufführung der „zeitgenössischen Recherche“ zum ziemlich brennenden Thema „Die zehn Gebote“ nach vier Stunden endlich ihr kicherndes Ende gefunden. Ein namhaftes Kollektiv von immerhin 15 zeitgenössischen Autoren liefert die durchweg blässlichen Vorlagen für dieses aufwändige Großunternehmen, das zu einem weit und tief schweifenden Denkraum hätte werden sollen, aus dem jedoch nichts weiter wurde als ein chaotischer Irrweg durchs Klein-Klein. Denn all die dichtenden Denker haben sich – gottverdammich! – elend verhoben. Oder sind abgeschmiert ins Platte, Alberne.
Gleich am Anfang, quasi als Vorspiel, legt das neunköpfige Ensemble in der toll monumentalen Kathedrale auf der kreisenden Drehscheibe einen rhythmisch bewegten Reigen hin zum kindlichen Popsong „Immer muss ich alles sollen“ von Gisbert zu Knyphausen. Das höhere Kindergeburtstagsniveau wird denn weitgehend tapfer durchgehalten in der Regie von Jette Steckel. Was sollte sie denn auch anderes tun, als ihre immerhin toll performende Spielschar kabarettistisch, ironisch-pathetisch oder grotesk-komisch durch den nachtschwarzen Sperrholz-Sakralbau zu jagen.
Zum ersten Gebot („Ich bin der Herr Dein Gott“) lieferte Clemens Meyer einen ellenlangen Monolog voller witziger oder aberwitziger oder bloß kryptischer Assoziationen, den Benjamin Lillie als immerhin technische Meisterleistung ohne einen Versprecher abspulte. „Ich bin der Wolkenmäcki. Wie man sich betet, so lügt man…“ – So ging das in etwa den ganzen langen Abend hin. Dass zwischendurch auch mal Todernstes ventiliert wurde (Missbrauch eines jungen Mädchens oder Kannibalismus), fiel beim ganzen großen „Diskurs“-Durcheinander nicht weiter auf. – Da konnte am Ende Fozzi-Bär nur noch sein Schaf packen und verdattert Leine ziehen. Amen.

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„Und ihre Lippen fanden sich im heißen Kuss der Liebe.“ Klassischer kann kein Happyend klingen. Hedwig Courths-Mahler fand für jeden ihrer 208 Liebesromane einen ähnlichen Schlusssatz. Nur einmal, beim 209., wurde sie sich untreu und verzichtete auf den finalen Schmatz im Glück – das Werk vermoderte in den Buchläden. Der Rest hingegen avancierte zu einem einzigen Bestseller: 208 Romane, produziert zwischen 1905 und 1939, erreichten eine Auflage von reichlich 30 Millionen Bänden, wurden in 14 Sprachen übersetzt. Statistisch gesehen ist HCM – das „Kind der Schande“ einer Marktfrau zwielichtigen Rufs namens Mahler, das gerade mal drei Jahre lang in dem Unstrut-Nest Nebra auf der Schulbank saß – die deutsche Königin der Bücher und gewisser Herzen. Am 18. Februar hatte die Gefeierte, Verlachte, Beneidete ihren 150. Geburtstag. Man muss ihr auch einen Monat später noch lächelnd gratulieren und ein herzig Blümchen niederlegen…
Sie sehe ja gar nicht so kitschig aus, wie sie schreibe, lästerte einst der Berliner Star-Kritiker Alfred Kerr über die fleißige Verfasserin von, wie er schrieb, „Dienstmädchenliteratur“, die sich gefalle mit einem widerlichen Zuviel an Seele, Gefühl, Moral. Hedwig kerrte zurück, sie habe nichts weiter getan, als schwer arbeitenden Menschen jenes Leben zu zeigen, nach dem immer deren Sehnsucht ging. „Ich habe Märchen für große Kinder erdacht.“
In Willy Haas’ legendärer „Literarischen Welt“ beschrieb sie 1929 ihre Traumfabrik so: „Sommers drei Wochen Ferien zum Ideensammeln, ansonsten 14-Stunden-Schreibtag.“ Kommentar ihrer witzige Verse schmiedenden Verehrerin Julie „Julchen“ Schrader: „Ach, wie viel Geist tat sie verspritzen. Sie dichtete meist, sagt man, im Sitzen.“