von Frank-Rainer Schurich
Ein Geiseldrama, das die Welt bewegte, ereignete sich vor 85 Jahren in den USA. Denn Charles A. Lindbergh (1902–1974), der Vater der Opfers, war eine außerordentliche Berühmtheit: 1927 hatte er als erster im Alleinflug den Atlantik von New York nach Paris in 33 Stunden überflogen. Dass Erfolg auch Neider schafft, sollte er fünf Jahre später am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Am 1. März 1932 entführte ein Unbekannter aus seinem Haus in Hopewell in New Jersey den anderthalb Jahre alten Sohn Charles. Der Geiselnehmer verlangte 50.000 Dollar Lösegeld, die tatsächlich übergeben wurden, ohne dass Charles zurückgegeben wurde. Sogar Al Capone, der damals gerade eine elfjährige Zuchthausstrafe verbüßte, setzte sich für die Freilassung des Jungen ein. Vergebens. Charles, von der ganzen Nation liebevoll Lindbergh-Baby genannt, wurde zwei Monate nach der Tat im Boden verscharrt in der Nähe von Hopewell aufgefunden.
Da die Polizei kaum verwertbare Spuren fand, vernahm sie alle Personen, die mit der Familie Kontakt hatten. Offenbar ging sie recht forsch vor. Das aus Großbritannien stammende Hausmädchen Lindberghs, Violet Sharpe, vergiftete sich. Man munkelte, sie sei durch die ständigen Verhöre und durch die Instinktlosigkeit der Presseleute in den Tod getrieben worden.
Chef der Staatspolizei von New Jersey war Oberst Norman Schwarzkopf. Sein gleichnamiger Sohn wird viel später für Amerika den Golfkrieg gewinnen, Vater Schwarzkopf erntete dagegen keinen Ruhm. Wohl zu Recht wurde ihm vorgeworfen, dem umtriebigen Vater Charles Lindbergh die Initiative, wenn nicht gar das Kommando bei den Ermittlungen überlassen zu haben.
Bei der Tat hatte der Kidnapper seine Leiter am Haus der Lindberghs in Hopewell stehen gelassen. Der Bericht vom „Bureau of Standards“ in Washington, wo die Leiter auseinandergenommen worden war, brachte keine verwertbaren Hinweise – die Ermittlungen waren in eine Sackgasse geraten. Schwarzkopf überwand seine Zweifel, die er sonst „Amateurdetektiven“ entgegenbrachte, und bat den bekannten Cheftechnologen Prof. Dr. Arthur Koehler von der Bundesversuchsanstalt für Forsterzeugnisse um Mithilfe. Koehler galt als ein hervorragender „Holzdetektiv“; die bloße Erwähnung seines Namens hatte einen äußerst verschlagenen Brandstifter zu einem umfassenden Geständnis veranlasst – erzählte man sich jedenfalls.
Koehler nahm die dreiteilige Leiter abermals auseinander, nummerierte Sprossen und Holme, analysierte, aber der Kidnapper blieb unentdeckt.
Die gesamte Kriminaluntersuchung kam nicht voran. Bis eines zufälligen Tages, am 18. September 1934, ein Dollarnote auftauchte, die von dem erpressten Geld stammte. Die Ermittler waren sich immer sicher gewesen, dass der Täter in New York in der Bronx wohnen musste. Ihren Erfolg hatten sie dem Tankwart Walter Lyle von der 127. Straße/Ecke Lexington Avenue in Manhattan zu verdanken. Dieser notierte sich die Autonummer des verdächtigen Kunden, der mit einer Zehndollarnote bezahlt hatte. Die Spur führte direkt in die Bronx zu dem in Deutschland vorbestraften illegalen Einwanderer Richard Hauptmann, geboren in Kamenz, von Beruf Tischler.
Natürlich wurden sein Haus und die Garage gründlich untersucht. Prof. Koehler konnte im späteren Gerichtsverfahren „nachweisen“, dass der Leiterholm Nr. 16 unzweifelhaft von einer Diele aus dem Dachgeschoß des Hauptmann-Hauses stammte: Beide Holzteile seien Longleafpineholz, beide zeigten dieselbe Anzahl von Jahresringen, und auch die Maserung passe haargenau, sagte der Experte im Verfahren gegen Hauptmann, das am 2. Januar 1935 vor dem Gericht des Bezirks Hunterdon in Flemington begann.
Die Verteidigung bot andere Holzexperten auf, die sich leider nur als Holzhändler, Bau- und Abbruchunternehmer und Baumschulenpflanzer bezeichneten und die allesamt die Nicht-Identität zwischen Tatort- und Vergleichsmaterial bekundeten. Sägemühlenbesitzer Ewald Mielke erklärte zum Beispiel, dass Holm 16 und die Diele aus dem Hauptmann-Haus mit Sicherheit nicht zusammengehörten.
Die Presse war massiv gegen Hauptmann eingestellt und verwendete infam Hauptmanns abgelegten Vornamen Bruno, da er fremd- und bösartiger klang. Er wurde stets als teuflischer Antiamerikaner und mörderischer Ausländer dargestellt. Im Gerichtsgebäude verkaufte ein Souvenirhändler sogar Nachbildungen der bei der Tat benutzten Leiter, und der Hauptverteidiger hatte die Geschmacklosigkeit, Briefköpfe mit Leitern zu zieren.
Später wurde die Leiterstory von Kritikern des Verfahrens zerrissen: Hatte Koehler wirklich Tatort- und einwandfreies Vergleichsmaterial begutachtet? Sind ihm die Spuren vielleicht von den Ermittlern untergeschoben worden? Warum wurde seine Expertise nicht durch ein Obergutachten fachmännisch geprüft?
Hauptmann legte bis zum Schluss kein Geständnis ab und hatte für die überzeugendsten Indizien eigenwillige Erklärungen. Dass man bei ihm noch 14.000 Dollar aus dem Lösegeld fand, begründete er damit, das Geld sei ihm von einem inzwischen verstorbenen Isidor Fish zur Aufbewahrung übergeben worden. Hauptmann wurde zum Tode verurteilt und am 3. April 1936 auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet.
Die meisten Fragen des Prozesses blieben offen, die Wahrheit liegt heute immer noch im Nebel. War Richard Hauptmann Täter, Mittäter, Mitwisser, gar unschuldig? Schließlich wurden Beweismittel als Falsifikate enttarnt, auch ein Journalist gestand, ein Beweisstück gefälscht zu haben. Hauptmann war von der Polizei nachweislich geschlagen worden, Zeugen schüchterte man massiv ein. Der Hinweis auf Isidor Fish, der im Dezember 1933 nach Deutschland geflohen war, wurde einfach nicht weiter verfolgt, obwohl dieser seine Fahrkarte mit markierten Goldzertifikat-Noten aus dem erpressten Geld bezahlte. Fish starb im März 1934 verarmt in Leipzig an Tuberkulose.
Bis heute kann nichts bewiesen werden, zu vermuten ist nur, dass Hauptmann, der bis zum Schluss leugnete, einem Justizirrtum zum Opfer gefallen ist, zumal die Geschworenen nach den Sätzen von Chefankläger Wilentz gar nicht anders als „schuldig“ entscheiden konnten: „Kein amerikanischer Gangster ist jemals so tief gesunken, kleine Kinder zu ermorden. Männer und Frauen des Geschworenengerichts! Der Staat New Jersey, die Stadt New York und die Bundesbehörden haben ein Tier gestellt, das niedriger steht als die niedrigste Art im Tierreich, den Volksfeind Nr. 1 Bruno Richard Hauptmann.“
Die Entführung des Lindbergh-Kindes war wie ein Fanal. In den USA traten viele Nachahmer auf – Menschenraub hielt in die Kriminalstatistik Einzug. Das schreckte die Abgeordneten auf. Schon am 22. Juni 1932 verabschiedete der Kongress das sogenannte Lindbergh-Gesetz (Lindbergh Kidnap Act), nach dem derartige Fälle nicht mehr allein von den Staaten, sondern vom Bund, also vom FBI, verfolgt werden konnten.
Der Fall inspirierte Agatha Christie zum berühmten Kriminalroman Mord im Orientexpress. Ein Fall für Poirot. Hier ist nicht Richard Hauptmann der Entführer des Kindes, sondern ein amerikanischer Tycoon, ein Industriekapitän.
Wesentlich für die Verurteilung, dies soll noch angemerkt werden, war die Aussage Lindberghs. Dieser wollte drei Jahre nach der Tat in der Stimme Hauptmanns zweifelsfrei als die des Lösegeldempfängers erkannt zu haben, obwohl er bei der Lösegeldübergabe 70 Meter entfernt in einem Auto saß, was schon damals in Fachkreisen stark angezweifelt wurde. Psychologisch gesehen ist eine solche Wahrnehmungs- und Reproduktionsleistung absolut auszuschließen.
Charles A. Lindbergh starb 1974 und hatte drei uneheliche Kinder in München, wie 2003 ruchbar wurde. 17 Jahre lang führte der „glücklich verheiratete“ USA-Fliegerheld, der falsch ausgesagt hatte, ein Doppelleben; auch aus der Verbindung mit der älteren Schwester der Münchner Hutmacherin Brigitte Hesshaimer sollen zwei Söhne hervorgegangen sein.
Schlagwörter: Agatha Christie, Charles Lindbergh, Entführung, Frank-Rainer Schurich, Richard Hauptmann