20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Alles Genscher oder was?

von Manfred Orlick

Seit Wochen steckt die Stadt Halle in einem Dilemma… wieder einmal. Und wieder einmal geht es um eine Umbenennung. „Schuld“ ist der vor einem knappen Jahr verstorbene Ex-Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Ein gebürtiger Hallenser – aber eigentlich ein Reideburger, denn der östliche Vorort wurde erst 1950 von der Saalestadt eingemeindet.
Seit Monaten ringt die Stadt nun um eine angemessene Ehrung ihres nach Händel und Francke bekanntesten Sohnes. Anfangs preschte die FDP vor: Nach dem Hamburger Vorbild („Hamburg Airport Helmut Schmidt”) sollte der Flughafen Leipzig/Halle in „Hans-Dieter-Genscher-Airport“ umbenannt werden. Pech nur, dass dieser auf dem Gebiet des Freistaates Sachsen liegt. Danach kristallisierten sich in der Stadt drei weitere Vorschläge heraus. Wie wäre es mit einer Umbenennung der Delitzscher Straße (zu DDR-Zeiten „Straße der DSF“)? Schließlich verbindet sie Reideburg mit Halle und war jahrelang der Schulweg des kleinen Hans-Dieter. Doch an der rund sieben Kilometer langen Ausfallstraße liegt eine Vielzahl von Gewerbebetrieben, was für diese Umstellungskosten (Änderung von Firmenschildern, Briefköpfen und so weiter) bedeuten würde. Die Straße teilen – auch keine Lösung.
Nächster Vorschlag: eine Umbenennung des Bahnhofsvorplatzes (kurz vor dem Riebeckplatz). Dieser ist jedoch mehr oder weniger nur ein gesichtsloser Kurzzeitparkplatz. Also auch keine besonders würdige Ehrung. Viele ältere Hallenser denken dabei an das berühmte Spott-Zitat von Curt Goetz: „Das Schönste an Halle sei Halles Hauptbahnhof, der eine ideale Gelegenheit biete, diese Stadt nach allen Himmelsrichtungen hin zu verlassen“.
Der dritte Vorschlag erhitzt besonders die Gemüter: die Umbenennung von Genschers ehemaliger Schule in der Nähe des Steintors. Die Sache hat jedoch einen Haken: Seine Penne ist heute das Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium. Und das seit 1991, also eine Wende-Errungenschaft. In ihrer über 100-jährigen Geschichte hatte die Schule davor bereits zwei Namenspatrone (Friedrich Nietzsche und Friedrich Engels). Soll man nun einen Aufklärer und Klassiker für einen verstorbenen und sicher verdienstvollen Politiker opfern? Die Gesamtkonferenz der Schule hatte bereits im November ihre Zustimmung gegeben. Den Schulleiter drücken aber scheinbar – wie manchen Hallenser – berechtigte Bauchschmerzen, und so schlägt er seinerseits eine Benennung der noch namenlosen Schulaula in Genscher-Saal vor. Eine Mini-Ehrung.
So tobt seit Wochen im halleschen Stadtrat und im Kulturausschuss ein Streit um die angemessene Genscher-Ehrung. Pro und Contra, Argument und Gegenargument. Zusätzlich angefeuert wird diese unerquickliche Auseinandersetzung fast täglich durch die Mitteldeutsche Zeitung mit Berichten, Kommentaren, Umfragen und Leserbriefen. Zu allem Überfluss hat jetzt noch Halles Erzrivale Magdeburg Öl ins Feuer gegossen: Die Stadträte an der Elbe beschlossen, dass die Landeshauptstadt eine Genscher-Straße oder einen Genscher-Platz bekommt. Au Backe, das tut weh Halle. Ein beherzter Hallenser griff daraufhin zur Selbsthilfe. Über Nacht brachte er selbstgebastelte Straßenschilder an. Auch der halleschen FDP platzt langsam der Kragen – zur nächsten Stadtratssitzung will sie vor dem Stadthaus eine Protestaktion durchführen.
Besorgt fragen sich viele Hallenser: Bekommt die Stadt noch die Kurve? Wer zerschlägt den gordischen Knoten? Bliebe noch die ganz große Lösung: Halle als Hans-Dietrich-Genscher-Stadt. Bitte nicht – wir hatten doch vor Jahren erst die peinliche Diskussion um Halle als Händel-, Saale-, Kultur-, Salz-, Universitäts- oder Wissenschaftsstadt.

Der Hallenser Stadtrat hat am 22. Februar entschieden: mehrheitlich für die Umbenennung des Bahnhofsplatzes in „Hans-Dietrich-Genscher-Platz“, mehrheitlich für die Umbenennung des Herder-Gymnasiums. OB Wiegand (parteilos) will sich bei der nächsten Aufsichtsratssitzung der Flughafengesellschaft für eine Umbenennung des Airports Leipzig/Halle einsetzen. (Nachsatz der Redaktion)