20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Im Kloster

von Renate Hoffmann

Sie pflegten von Anbeginn die Gastfreundschaft, die Augustiner-Chorherren, und hielten die Tore offen für Reisende, Pilger, Kranke und Arme. Kunst und Wissenschaft galten ihnen viel, sie waren Programm. Beizeiten achtete man auf die Ausbildung junger Leute, einerseits um den Nachwuchs der geistlichen Gemeinschaft zu sichern, andererseits um ihnen auch den Weg für weltliche Aufgaben zu ebnen. Dieses wiederum verlangte die Bereitstellung von Lehr- und Lernmaterial. Darüber hinaus waren die Anweisungen zur Liturgie erforderlich, ebenso Angaben für den Gregorianischen Choralgesang und das Bewahren von Erkenntnissen der Wissenschaften. In schriftlicher Form.
Da die klösterliche Gemeinschaft bereits seit 1142 bestand – noch weit entfernt von Johannes Gutenbergs „Schwarzer Kunst“ – war man auf die Handschrift angewiesen. In der Schreibstube, dem Scriptorium, wirkten kenntnisreiche und geübte Mitbrüder, die nicht nur die Kunstschrift meisterlich beherrschten, sondern auch in feinster Manier die Werke malerisch gestalteten. Es begann die Blütezeit der Miniatur. Und alles was zum geistlichen und geistigen Gedankengut gehörte, mitsamt dem Handschriftenschatz, entwickelte sich im Zeitenlauf zu einer berühmten Bibliothek. – Zudem führt die jahrhundertealte Anlage den Architekturinteressierten durch drei große Baustile: Romanik, Gotik, Barock. Gründe genug, um das Kloster Neustift der Augustiner-Chorherren in Südtirol, unweit von Brixen (Bressanone) zu besuchen.
Angesiedelt am Flusse Eisack (Isarco), der zu Zeiten sehr ungebärdig werden kann und umgeben von Rebhängen, Obstgärten und hohen Bergen. Der erste Anblick des Klosters verblüfft. Wer Rom kennt, wähnt sich einer Kleinausgabe der Engelsburg gegenüber. Ein Rundbau romanischen Ursprungs, trutzig ummantelt von einem doppelten Zinnenkranz und mit Schießscharten und Pechnasen bestückt. Im Kern jedoch befindet sich eine Kapelle. Sie ist dem Erzengel Michael geweiht. Was soll man von diesem kriegerischen Bau halten?
In den unruhigen Tagen, als die Türken gegen Westen vorrückten und 1474 schon in Klagenfurt standen, rüstete man vor Schreck in Neustift auf, zog eine Mauer, die „Türkenmauer“ um das klösterliche Anwesen, baute einen Turm, den „Türkenturm“ zur Feindbeobachtung und gab der Michaelskapelle ihre wehrhafte Gestalt. Doch die Osmanen blieben aus. Im ortseigenen Sinne: Gott sei Dank.
Die großzügig angelegten Stiftsgebäude umstehen in ihrem Geviert den „Wunderbrunnen“. Im Jahr 1508 zur Wasserversorgung des Klosters gegraben, ist das eigentliche Wunder nicht im fließenden Wasser zu suchen, sondern im Brunnenhaus. Es ruht auf Säulen und trägt ein achteckiges, pagodenähnliches Dach mit keckem Türmchen. In den acht Giebelfeldern des Dachs sind die sieben antiken Weltwunder in bunten Bildern angebracht. Außer den Hängenden Gärten von Babylon und den ägyptischen Pyramiden bei Memphis fallen mir die übrigen nicht ein. Ich rede mich auf die verblassten Malereien heraus, die nichts Genaues erkennen lassen, kaufe mir an der Kasse das Informationsheft und lese nach. – Und was enthält das achte Giebelfeld? Die weiträumige Anlage von Neustift! Die Klosterleute sagen, es sei der Willkommensgruß für die Gäste. Die Spötter sagen, die Klosterleute hielten ihr Anwesen hochmütig für das achte (moderne) Weltwunder. Jedem das Seine.
Die Stiftskirche überragt die Baulichkeiten mit dem wuchtigen romanischen Glockenturm und einem gotischen Chor. Von außen erscheint sie gestückelt und etwas ungelenk. Im Inneren überrascht sie den Eintretenden mit macht- und prachtvollem Barock. Der Architekt Joseph Delai aus Bozen (Bolzano) verwandelte das dreischiffige, ehemals romanische Langschiff im 18. Jahrhundert in eine lichtdurchflutete, bunte, heitere Welt, in der des Schauens kein Ende ist. Im Morgenlicht glänzt die Kanzel wie ein goldener Erker. Gewölbebögen und Wände sind bis auf das letzte Fleckchen von Fresken bedeckt. Die überall platzierten Engel blasen und fiedeln Hosianna.
Vielleicht musizieren sie auch dem hochberühmten, einäugigen Minnesänger, Poeten, Diplomaten, Komponisten Oswald von Wolkenstein (um 1377–1445) zu Ehren, der hier seine Grabstätte fand. – Vermutlich auf Burg Schöneck im Pustertal geboren, im Dienste von Königen weit gereist und als guter Gesellschafter überall willkommen. Kaiser Sigismund (1368–1437) ernannte ihn 1434 zum Schutzvogt von Neustift, welche Aufgabe der Wolkensteiner getreulich wahrnahm. In der lebensfrohen Atmosphäre der Stiftskirche vermeint man seinen Jubelgesang auf den Frühling zu hören: „Die Blumen strahlen, malen / Hübsche Bilder, wilder, / Heller, greller, grüner, / Kühner als gedacht. / Lacht! Mai entfacht / Jetzt sein Feuer, / Euer neuer / Tag ist voller Lüste …“ In dieser Gegend muss ein günstiges Klima für Liedermacher herrschen, denn auch Walther von der Vogelweide stammt vermutlich aus der näheren Umgebung. Die nicht weit entfernt gelegene Gemeinde Lajen (Laion) am Eingang zum Grödner Tal erhebt Anspruch darauf.
Ich eile zur Bibliothek. Sie galt einst als „die beste und umfangreichste des Landes.“ Der Weg zu den Büchern führt durch die ehemalige Klosterschreibstube. Hier entstanden die Kunstwerke aus Wort, Schrift und Bild – ein Ort des Staunens. Missalien (Bücher zur Messordnung) und Gradualien (Liturgische Gesänge zu den Festtagen des Kirchenjahres) exakt geschrieben und mit überquellender Fantasie geschmückt. Die Farben leuchten wie eben aufgetragen. In den Randleisten verstecken sich Pflanzen und Getier in verschlungenem Rankenwerk. Engel (wahrscheinlich sind es brave Seelen) erklimmen die Himmelsleiter, oben erwartet von Gottvater. Miniaturen heben die Initialen heraus und zeigen biblische Szenen in Landschaften eingebettet. Die Schar der Heiligen zieht durch die Schriften, und alltägliche Begebenheiten beleben sie. Wer nicht lesen kann, liest die Bildersprache. – Maria liegt mit ihrem Kleinkind wohlbehütet im Bett. Nebenan wird auf dem Feuer unter ständigem Umrühren das Mittagsmahl zubereitet. Kleine gelbe Bällchen (Polenta?). Eine junge Frau trägt sie herein. Guten Appetit, Maria.
Der große Bibliothekssaal strahlt in festlichem Rokoko. Vergoldete Deckenstuckaturen über einem Bücherreichtum von 77.000 hier und in benachbarten Räumen aufbewahrten Bänden. Man darf sie in kleinen und großen Wandschränken bewundern, deren geschnitzte Aufsätze die Wissensgebiete anzeigen. Eine zierliche Galerie umläuft den noblen Raum. Der Gesamtbestand der Klosterbibliothek erfasst gegenwärtig rund 96.000 im Hauptkatalog registrierte Werke. Doch wertvollstes Gut bleiben die Handschriftensammlung und die Frühdrucke.
Die naturwissenschaftliche Sammlung habe ich noch nicht gesehen. Auch nicht die Pinakothek und den barocken Stiftsgarten. Ob der Tag dafür ausreichen wird?