20. Jahrgang | Nummer 4 | 13. Februar 2017

Gesundheit als Geschäftsmodell

von Peter Schönhöfer

In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatten die sozialen Probleme und Nöte der Arbeiterklasse eine politische Brisanz erreicht, dass der Staat eingreifen musste. Für die gesundheitliche Versorgung der abhängig Beschäftigten wurde durch Bismarck die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) geschaffen, deren Kosten solidarisch jeweils zur Hälfte die Betroffenen und deren Arbeitgeber zu tragen hatten. Dieses Modell der Gesundheitsversorgung war als gesundheitliche Daseinsvorsorge erfolgreich und entwickelte sich unter Einbeziehung des medizinischen Fortschritts weiter, wobei sich auch die Kosten des Gesundheitssystems kontinuierlich erhöhten.
Im Prinzip existiert seitdem die GKV als ein Zwei-Klassen-Versicherungssystem, in dem alle abhängig Beschäftigten (heute etwa 90 Prozent der Bevölkerung) bis zu einem bestimmten Monatslohn (Beitragsbemessungsgrenze, heute 4.350 Euro) mit einen bestimmten Prozentsatz des Lohns (heute meist 15,7 Prozent) pflichtversichert sind. Besserverdienende, Selbständige oder Beamte können sich privat versichern oder in der GKV weiter versichert bleiben. Dann zahlen sie als Versicherung den Beitrag der Bemessungsgrenze unabhängig von der Höhe des Verdienstes. Mit wachsenden Einkommen zahlt man also einen immer geringeren Gehaltsanteil für die Gesundheitsversorgung. Wolfgang Albers rügt in seinem Buch „ Zur Kasse bitte! Gesundheit als Geschäftsmodell“ diese Ungleichbehandlung und Begünstigung der Besserverdienenden, Reichen und Beamten. Auch andere Gesundheitsexperten wie die Bertelsmann-Stiftung fordern eine Ausdehnung der GKV-Versicherungspflicht auf die begünstigten Gruppen, wodurch der derzeitige Beitragssatz von 15,6 Prozent um 0,34 Prozent absinken könnte, das sind immerhin 4 bis 5 Milliarden Euro pro Jahr.
Die dominierende Wirtschaftslehre hatte sich seit einiger Zeit auf eine neoliberale Ideologie der Profitmaximierung hin als allein gültige Handlungsethik ohne Rücksicht auf soziale oder gesellschaftliche Normen (Raubtierkapitalismus) entwickelt. Vertreter dieser Lehre kritisierten die solidare Krankenversorgung der GKV als unwirtschaftlich und überholt und plädierten für eine profitorientierte Gesundheitswirtschaft als Alternative. Neoliberale Ideologen aus CDU und FDP forderten: „Die GKV als ein System, in dem man sich zwangsweise versichern muss, wird abgeschafft […].Die GKV-Unternehmen werden in privatwirtschaftliche Unternehmen umgewandelt.“ (NRW-Gesundheitspapier 2009). Dies führte zu einer Orgie von Einsparmaßnahmen im Gesundheitsbereich seitens der Politik.
Welche Folgen das für die GKV-Versicherten hat, wie das und wo das abläuft, davon handelt das Buch von Wolfgang Albers, der als Oberarzt für Chirurgie an einem Berliner Krankenhaus und als gestandener Gesundheitspolitiker den destruktiven Einfluss des neoliberalen Profitstrebens auf die Patientenversorgung beobachtet, erfährt und beschreibt.
Ausführlich geht Albers auch auf die von den Arbeitgebern und Wirtschaftkreisen seit den 1990er Jahren gestarteten Angriffe auf das Solidarsystem der GKV ein. Seit 2014 hat die Regierung auf Wunsch der Arbeitgeber deren Anteil bei 7,3 Prozent des Monatslohns festgeschrieben, unabhängig von der Höhe des Beitragssatzes, den die Arbeitnehmer zu zahlen haben. Auf Veranlassung neoliberaler Politiker und der Arbeitgeber muss also der ärmere Teil unserer Gesellschaft alle weiteren Kostensteigerungen im Gesundheitswesen alleine tragen.
Heute liegt der Beitragssatz je nach Kassenart bei durchschnittlich 15,7 Prozent des Monatslohns, so dass die GKV-Versicherten schon 8,4% ihres Lohns abführen müssen. 1,1 Prozent des Beitragssatz beinhalten für die Versicherten etwa 13 bis 15 Milliarden Euro Mehrkosten pro Jahr.
Wolfgang Albers schildert auch, mit welchen Strategien Ärzteschaft und Pharmaindustrie, also Leistungs- und Warenanbieter, die Kosten des Gesundheitswesens beeinflussen und nach oben manipulieren konnten, zu Lasten der GKV-Versicherten. Beispielhaft erwähnt werden die bekannten Gehaltsbetrügereien in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der Direktverkauf von nutzlosen Untersuchungen und Leistungen sowie von fragwürdigen Medizinprodukten an Patienten in der Praxis (Individuelle Gesundheitsleistungen, IGeL), die Gesundheitskampagnen zur Steigerung von fragwürdigen Medikamentenverordnungen bei Befindlichkeitsstörungen, Osteoporose, Bluthochdruck, Diabetes, Cholesterin sowie die Verhinderung der Einführung einer kostensparenden Positivliste für Arzneimittel, die sich die Regierung Schröder in Kungelrunden mit der Pharmaindustrie abkaufen ließ.
Bemerkenswert ist das Kapitel über die Schwerpunkte der gegenwärtigen Diskussion zu der angeblichen Kostenexplosion im Gesundheitswesen, die von der Politik nach neoliberalem Strickmuster durch mehr Wettbewerb und mehr Wirtschaftlichkeit bekämpft werden soll. Geprägt wird diese politische Geisterdebatte auch durch eine neue Spezies von Beratern, den Gesundheitsökonomen, deren Gutachten für die jeweiligen Interessenvertreter oft den Eindruck erwecken, dass mit den Auftraggebern vorab abgesprochen wird, was in dem Gutachten stehen soll. Es ist dem Autor zu danken, dass er darauf hinweist, dass die Kostensteigerungen im Gesundheitswesen nicht explodiert sind, sondern in den letzten 40 Jahren ziemlich präzise dem Wachstum des Bruttosozialproduktes entsprechen. Der Anteil der Kosten für das Gesundheitswesen am Bruttosozialprodukt ist konstant und liegt in Deutschland wie in vielen EU-Ländern bei 11 bis 12 Prozent des BSP, während er in den USA 16 bis 17 Prozent beträgt. Die Mär von der Kostenexplosion wird also von Politikern vornehmlich gepflegt, um Interessenvertreter zu bedienen, die Krankenhäusern der öffentlichen Hand mangelnde Wirtschaftlichkeit unterstellen, um sie zu privatisieren. Als Kreditgeber und Investoren kassieren sie dann 15 Prozent des Umsatzes als Rendite, eine Gewinnerwartung, die durch Abbau von Personalstellen erbracht werden muss. Auch diese Privatisierungsstrategie ist eine dissoziale Verschiebung von Lasten auf das Krankenhauspersonal und die GKV-Patienten.
Gut gelungen sind auch die Darstellungen über die behauptete Unwirtschaftlichkeit der Krankenhäuser und die von der Politik dadurch ausgelösten Sparmaßnahmen wie das Fallpauschalensystem (DRGs) oder Kürzungen von zum Erhalt der medizinischen Leistungsqualitäten erforderlichen Investitionsmitteln.
Aber sie lieferten keine strukturellen Lösungsansätze zur Beseitigung von realen Problemen der deutschen Krankenhauslandschaft wie beispielsweise die zu hohen Bettenzahlen. Nur die Anhänger der neoliberalen Gesundheitswirtschaft wurden gefördert. Sie durften mit der Privatisierung der Krankenhäuser und deren Umwandlung in Profitcenter und Renditefabriken sowie mit Stellenabbau, Arbeitsplatzvernichtung und Auslagerung von Tätigkeiten an billigere Leiharbeiter (Outsourcing) als Hauptinstrument zur Senkung der Personalkosten schalten und walten. Chefärzte wurden zunehmend durch Boni auf Wirtschaftlichkeit ihres Handelns verpflichtet, die auf Rosinenpickerei, also Erhöhung lukrativer Diagnosen und Behandlungen zielten. Auch Bestechung wurde hoffähig durch Kickbacks an Ärzte, die Patienten für lukrative, mitunter sogar für unnötige Diagnosen und Behandlungen einwiesen.
Privatisierung und profitorientierte Umstrukturierung haben somit gravierende Folgen für die Qualität der Krankenversorgung und die Patienten. Welche Probleme im Rahmen der Privatisierung entstehen, beschreibt Albers ausführlich am Beispiel des Verkaufs der Hamburger Kommunalen Kliniken an die private Asklepios-Gruppe und der Umstrukturierung der Berliner Städtischen Kliniken in die Vivantes GmbH, letzteres unter dem Aspekt des selbst Betroffenen.
Eine lesenswerte, vor allem aber nachdenkenswerte Analyse zum Politikversagen staatlicher Institutionen im Gesundheitswesen, das dadurch zu einer profitorientierten Gesundheitswirtschaft ohne soziale Verantwortung degeneriert – zugunsten eine kleinen Gruppe von Investoren und von Profiteuren vor allem im Pharmabereich.

Wolfgang Albers: Zur Kasse bitte! Gesundheit als Geschäftsmodell, Verlag Das Neue Berlin, September 2016, 14,99 Euro.