von Jochen Mattern
Nur wenige Tage nach der Wahl des Wortes „Volksverräter“ zum Unwort des Jahres 2016 konnten die Leser der Sächsischen Zeitung entnehmen, weshalb das Unwort, ungeachtet seiner nationalsozialistischen Herkunft, in den öffentlichen Sprachgebrauch zurückgekehrt ist. In einer als Essay bezeichneten Klageschrift mit dem Titel „Der böse gute Wille“ erhebt deren Autor Anklage gegen die „politisch-mediale Klasse“ hierzulande: Sie begehe Verrat am deutschen Volk. Zwar geschieht das nicht wortwörtlich, doch dem Sinn nach.
Eine ausführliche Darstellung des Tatbestandes ist als gleichnamiges Buch im Antaios-Verlag von Götz Kubitschek erschienen. Der Verleger zählt zu den konzeptiven Ideologen der bundesrepublikanischen neuen Rechten.
Es handelt sich bei dem Verfasser des Artikels in der Dresdner Tageszeitung um Lothar Fritze, einen Philosophen und Politikwissenschaftler. Fritze lehrt an der TU Chemnitz und ist Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden. Einem größeren Publikum bekannt geworden ist der Professor mit einem Zeitungsartikel in der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 1999. Er spricht darin, ausgerechnet zum 60. Jahrestag des Bürgerbräukeller-Attentats auf Hitler, dem Attentäter Johann Georg Elser das moralische Recht ab, Hitler mit einer selbstgebauten Bombe zu töten. Im Hannah-Arendt-Institut hatte der Artikel eine heftige Auseinandersetzung ausgelöst, in deren Ergebnis der Direktor des Instituts, ein Kritiker Fritzes, von den Gegnern handstreichartig abgesetzt worden war (siehe Das Blättchen vom 4. August 2003).
Im aktuellen Zeitungsbeitrag konstatiert Lothar Fritze einen Kulturkampf, in dem der „Fortbestand des deutschen Volkes und des deutschen Nationalstaates“ auf dem Spiel steht. Mit ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik verfolge die Bundespolitik, deren Aufgabe es ist, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, das Gegenteil: Statt die „nationalen Beharrungskräfte“ zu stärken, wie es ihrer Aufgabe entspräche, strebe die herrschende Politik, laut Fritze, eine „ethnische und kulturelle Durchmischung“ der Deutschen an. Auf lange Frist habe der sich vollziehende „Bevölkerungsumtausch“ die Schaffung einer „ethnisch und kulturell unifizierten Weltgesellschaft von Gleichen“ zum Ziel. In einer egalitären und nivellierten Weltgesellschaft wäre jede kulturelle Besonderheit oder völkische Eigenart getilgt, die der Deutschen eingeschlossen. So entpuppe sich die sogenannte Willkommenskultur, angetrieben von „einer Mischung aus gesinnungsethisch aufgeladener Irrationalität, politischer Infantilität und Parteienkalkül“, als ein „soziales Großexperiment“ zur Abschaffung Deutschlands, um einen bekannten Sozialdemokraten und Bruder im Geiste Fritzes zu zitieren.
Mit diesem sozialen Großversuch untergrabe die herrschende Politik die „nationale Identität und kulturelle Homogenität“ der Deutschen und beraube den Staat damit seiner völkischen Grundlage. Für Fritze ein klarer Verstoß gegen den antitotalitären Grundkonsens der Bundesrepublik. „Weltverbesserungsideen“ zur „radikalen Überwindung des Hergebrachten und Bestehenden“, wie die derzeitige Politik sie hege, seien ein typisches Merkmal totalitärer Systeme.
All diese Überlegungen sind weder neu noch originell. Fritze bedient sich für seine Zwecke aus dem Fundus von Konservativer Revolution in der Weimarer Republik und der französischen neuen Rechten, der Nouvelle Droite. Einzig Fritzes Behauptung, die Bundespolitik auf totalitären Abwegen ertappt zu haben, setzt einen eigenen Akzent.
Im Weltbild (neu)rechter Ideologen spaltet Kultur die Völker. Denn Völker seien ethnisch-kulturelle Entitäten (Wesenheit), die eben deshalb ihre Eigenart nur getrennt voneinander, auf ihrem jeweiligen Territorium entfalten können. Sobald sie einer kulturellen „Durchmischung“ oder einem „Bevölkerungsaustausch“ ausgesetzt sind, büßten sie ihre ethnisch-kulturelle Substanz ein. Auf der „Gleichartigkeit“ des Volkes, wie es im Nationalsozialismus hieß, ruhe jedoch alle Staatsgewalt. Nicht politisch, sondern ethnisch sei der Staat fundiert. Es seien die Volksgenossen und nicht die politisch gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürger, egal welcher kulturellen Herkunft sie sind, die den Staat bilden. Die politische Dimension des Kulturkampfes bestehe demzufolge darin, dass die kulturelle Identität eine substantielle Übereinstimmung zwischen dem Volk und den Regierenden garantiert. Das mache politische Stellvertretung, eine plurale und parlamentarische Demokratie überflüssig. Und es schließe ein, dass, nach einer Formulierung Carl Schmitts, die Demokratie „das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß“.
Hierfür scheint eine Diktatur besser geeignet zu sein als eine demokratische Regierung. Weil die Bewahrung nationaler Homogenität und Eigenart nur um den Preis der gewaltsamen Austreibung kultureller Differenz beziehungsweise Vielfalt innerhalb eines Landes zu haben ist, ist die neurechte Ideologie gewaltträchtig. Das ist der Sinne der Rede von der Nation als einer Schutz- und Schicksalsgemeinschaft.
Zum Erhalt der „ethnischen Homogenität“ hatte der Fraktionsvorsitzende der NPD, Holger Apfel, schon 2004 im Sächsischen Landtag den „ethnischen Bürgerkrieg auf deutschem Boden“ erklärt. Soweit will die akademische Rechte nicht gehen. Lothar Fritze plädiert in seinem Zeitungsbeitrag für eine „Änderung der Herrschaftsverhältnisse“ durch Wahlen. Im Plädoyer für eine Abwahl der herrschenden Politik unterscheidet sich die universitäre von der militanten Rechten. Allerdings ist der Grat zur Militanz im vermeintlichen Kulturkampf ein schmaler.
Schlagwörter: Deutschland, Flüchtlingspolitik, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden, Jochen Mattern, Kulturkampf, Lothar Fritze, neurechte Ideologie