von Hans-Dieter Schütt
Den Kapitalismus kannte sie. War selber, als Fabrikantentochter aus Berlin-Friedenau, „aufgewachsen auf der Seite des höheren Aufwandes“. Ein Mercedes fuhr sie zur Schule. Nie entließ Inge Keller das Mondäne aus der Pflicht, ihrer Erscheinung Form und Format zu geben. Sie war keine Schauspielerin, die man aus gestalteter Größe herabziehen konnte auf Identifikationsniveau. Man hob den Kopf zu ihr, auch wenn sie auf einem Stuhl saß. Natürlich war sie deshalb die Idealbesetzung für Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, Thomas Langhoff inszenierte das Stück 1999 am Deutschen Theater Berlin. Die Milliardärin, aufgestiegen aus dem Schweizer Provinzkaff – die dem Ort nun Unsummen verspricht, wenn es den Mann lyncht, der einst ihre Liebe verriet. Bislang war die Rolle der Claire Zachanassian eine Domäne der aufragenden Matronen gewesen, der eleganten oder wuchtigen Majestäts-Weiblichkeiten. Und was machte die Keller daraus, weit über siebzig schon und im kurzen Rock, in kunstlederner und zugeschminkter Geschmacklosigkeit? Sie spielte nicht, dass Geld den Menschen verwandelt, sie spielte, dass Geld ihn kenntlich macht. Diese Claire war der kleine nuttige Dorftrampel geblieben, aber weil sie unfassbar reich ist, muss sie das keine Sekunde mehr verbergen. Ein Ausdruck höchster Freiheit, nur möglich, wenn der knisternde Schein das Sein bestimmt.
Kapitalismus, Teil zwei: In Konstanze Lauterbachs Inszenierung von Jean Genets „Die Zofen“, ebenfalls am DT, spielte Inge Keller geraume Zeit später die verhasste Herrin zweier Dienerinnen. Im Thronstuhl fährt sie herein, wie von unsichtbaren Geistern geschoben. Im goldfarbenen Kleid, ein Bein übers andere schlagend, beide Beine elastisch in der Luft haltend. Lange rote Fingernägel. Ein Wirbelwind kapitalistischer Sieghaftigkeit. Die zwei Zofen stehen da: die zwei Doofen. Wessen Welt ist die Welt? Für diesen Abend jedenfalls ist es entschieden, und die Keller entfacht ein Furiosum glückhaftester Geist- und Gefühlslosigkeit – dies aber listig, in unangreifbar charmanten Sätzen, in wärmsten, gefühligsten Posen, wie man sie von jeder Prominenten-Gala für die Armen der Welt kennt. In die Glamour-Gesten stürzte sich Inge Keller mit einer Lust, die sie fast zum Singen brachte. Ein wenig erinnerte das Bild an jene Mia Pinneberg in Falladas „Kleiner Mann, was nun!“, die Keller warf damals so bezaubernd um sich, mit unverschämtem, ordinärem Gossenadel. Einer der großen Literaturfilme des DDR-Fernsehens, Regie: Hans-Joachim Kasprzik.
Keller war früh, nach ersten Erfolgen am Hebbel- und Schlosspark-Theater bei Boleslaw Barlog, der ihr „Hollywoooood“ voraussagte, in die DDR gegangen, „um nicht am Wohlstands-Whisky“ zugrunde zu gehen. Und: weil sie von Deutschland inzwischen zu viel gelernt hatte, um in Adenauers Westen bleiben zu wollen. Sie hat – seit 1950 am DT – Theatergeschichte geschrieben. In Aufführungen von Wolfgang Langhoff, Wolfgang Heinz, Heinz Hilpert, Rudolf Noelte, Siegfried Höchst und Horst Sagert, in Benno Bessons „Tartüffe“, in vielen Inszenierungen von Thomas Langhoff. Ulrich Mühe über die Keller: „Dass dies möglich ist! Fallen, ohne zu versinken; fliegen, ohne zu verschwinden – diese wunderbare Erfahrung verdanke ich ihr, sie hat mich meinen Beruf kennenlernen lassen.“
Sie war Goethes Iphigenie (neben Wolfgang Langhoff), war Shakespeares Goneril (neben Willy A. Kleinau) und dessen Emilia (neben Ernst Busch), war Tschechows Mascha (wieder neben Langhoff), war Gorkis Ssomowa. Über ein Dutzend Jahre (!) spielte sie bei Thomas Langhoff die Frau Alving in Ibsens „Gespenstern“; sie gab eine grandiose Julie in Alexander Langs „Dantons Tod“, sie wirkte mit in Einar Schleefs letzter Inszenierung „Verratenes Volk“, sie arbeitete am Berliner Ensemble bei Robert Wilson, der den Satz sagte: „Nur Jessie Norman kann so singen, wie Inge Keller spricht.“
Sie war von idealischer Strenge oder verhärteter Abkehr, konnte Schönheit mit kalter Raffinesse kreuzen oder Gefühlsschauder mit kämpferischem Hochmut. Sie offenbarte in aller Herbheit doch Liebesverlangen oder im Lieben doch eine ununterdrückbare Fürchterlichkeit. Lange Zeit war sie die naive, dann aber die hohe, stolze Adels-Bürgerin der Szene; mehr und mehr aber erfolgte eine Öffnung ins Ironische, ins herrisch und verwegen Skurrile sogar, schließlich ins Brüchige, Gebeugte – das trotzdem von unangreifbarer Würde umschmolzen blieb. Alles, was ihr Wesen ausmachte, trieb sie auf eine Bühne, aber dennoch gelang es ihr nie, diese Bühne mit zweifelsfreier Selbstverständlichkeit zu betreten. Sie fragte gern, was es für Gründe gäbe, hinauf- und in ein Stück hineinzusteigen; nichts kann geheimnisvoller sein als gewonnene Klarheit.
Und wenn die Keller las, Stefan Zweig oder Kleist oder Thomas Mann, lieh sie Dichtern nicht ihre Stimme, sie gab ihren Atem hin. Legendär ihre literarischen Matinees, kundig inspiriert und begleitet vom Dramaturgen Hans-Martin Rahner. Keller konnte mit einer einzigen Bewegung ihrer Mundwinkel jedes Pathos unterlaufen, und mit einem einzigen Heben des Kopfes tauchte sie ein ganzes Theater in die Stille höchster Erwartung hinein. Sie erzählte ein Märchen, um im nächsten Moment in den Thriller zu wechseln. Sie war, was deutsche Sprache betraf, vom Bild der Kathedrale inspiriert, nicht von der Poetik der Ruine.
Eine wesentliche Beobachtung aus ihren letzten Jahren: Zu Resignation und Zynismus, nur weil sich am Theater die Zeiten, die Machtverhältnisse, die künstlerischen Handschriften ändern, ist sie unfähig gewesen. Sie blieb fortdauernd geschlagen mit Interesse. Sie ging so oft wie möglich und ausdauernd fiebernd in Aufführungen, schrieb Kollegen kleine Zettel, dankte, riet, ermunterte, ohne sich aufzudrängen. Bei Michael Thalheimer im zweiten Teil des „Faust“ gab sie altersgrundtief Philemon, Baucis und Wanderer in einer Person. Die Unterschrift unter den Vertrag bei diesem berückend harten Künstler des szenischen Konzentrats (die Keller: „Da wehrte sich vieles in mir“) hatte sie lange hinausgezögert, bis endlich hin zur Frage, wie denn das überhaupt, verdammt noch mal!, gehen und wohin das bloß führen solle, drei Figuren in einer, drei Texte in einem. Thalheimer: „Ich weiß es doch auch nicht.“ Da hatte er sie. Die Neugier, das Lernfieber, die Vollendungssehnsucht. Das Glück, in einer Arbeit verbraucht zu werden, die Risiko bedeutet. Sichergehen, dass nichts sicher ist.
Ihre letzte Rolle am Deutschen Theater: „Tilla“ von Christoph Hein, Regie: Gabriele Heinz. Ein kleines Stück über die Durieux. Ein Stück über den Ruhm. Der bleibt nur eine Spur, zumal in jenen Sand geschrieben, der am Meeresstrand das ewige Futter ewig anrollender Wellen ist. Die Keller als die Durieux als die Keller als die Künstlerin überhaupt. Sie spielte – als fasste sie ihre eigene Existenz noch einmal zusammen – zwinkernd und zweifelsschwer, schmerzbewusst und schmissig, frechschnäuzig und frivolmäulig mit dem Komödiantenlebenslauf. Das Sternschnuppige, das Übermütige, das Traumsüchtige und Weltflüchtige, das dem Leben Verfallene und das mit dem Leben Verfallende, also: den ganzen Reichtum der Kunstausübung.
Heinrich Mann nannte die Durieux eine „moderne Schauspielerin“. Ihre Kunst sei „erarbeitet und wissend“ – auch wenn die Spielerin selber eher erahne und fühle. In diesem Sinne war auch Inge Keller ganz eine Moderne. Was sie spielte, wirkte so ganz – und doch nicht so, als sei sie das, was sie spielt, ganz und gar. Am Telefon meldete sie sich gern als „diensthabende Gräfin der DDR“, und man hat sie in einer öden journalistischen Wiederholungsschleife die große Dame des Deutschen Theaters genannt, aber: Sie blieb die große Werktätige. Sie trug das Divenkleid und zugleich die Arbeitsschürze. Mit großer Überzeugung: Beweisen kann man nichts, spielen alles. Sie gehörte zu denen, die jeden Abend wie um ihr Leben spielen. Die alles aufs Spiel setzen in des Wortes mehrfacher Bedeutung. Die spielen, um aus der Rolle zu fallen; nicht freilich aus der Welt. Wenn sie Lust auf Fragen hatte, fragte sie am liebsten mit Volker Braun: „Wann sag ich wieder mein und meine alle.“
Nun ist Inge Keller, 1923 geboren, im Alter von 93 Jahren in Berlin gestorben. Heiner Müller schrieb ihr: „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze – ich bin sicher, daß sie in Deinem Fall eine Ausnahme machen wird.“
neues deutschland, 07.02.2017. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
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