von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Jung-Genie des Theaters aus Basel, ein Bühnen-Pups aus Berlin …
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2016 war ein Glücksjahr für Simon Stone, diesen Bengel Anfang 30, der fast alles schon drauf hat, was zur großen Bühnenkunst gehört. Seine Inszenierung des Ibsen-Stücks „John Gabriel Borkman“ – eine Koproduktion Wiener Festwochen/Burgtheater/Basel – schleuderte den Schweizer, der in England und Australien aufwuchs, ins internationale Rampenlicht und brachte jede Menge Preise auf einmal. A star was born. Da grüßt auf seine Art ein neuer Luc Bondy, ein neuer Frank Castorf – was für eine Mischung.
Doch Stone ist nicht nur begnadeter Regisseur (mit Fest-Engagement in Basel), er ist auch geistreicher Autor. Er dichtet die zu inszenierenden Stücke neu; er folgt zwar genau deren dramatischer Struktur; doch die Sprache ist von heute, von Stone. – Also noch so ein Betreiber der neuerdings massenhaft üblichen „Überschreibung“. Da klingt dann alles wie im Fernsehen. Doch bei diesem Ibsen klingt es wie sehr, sehr gut gemachtes Fernsehen. Und so hat alles gepasst: Starkes Drama (Ibsen), starkes Script (Stone), starke Regie, starke Schauspieler (Caroline Peters, Birgit Minichmayr, Martin Wuttke). Ein Glücksfall. Da muss einfach alle Welt Bravo rufen.
Der Ibsen-Knaller verdrängte ein bisschen, dass die Fachpresse Stones Basler Inszenierung von Tony Kushners „Angels in America“ frenetisch feierte – ein markerschütterndes Schwulen-Stück. Zugleich ein grandioses, schmerzlich-kritisches US-Gesellschaftspanorama; nicht „überschrieben“, aber neu, sagen wir: gegenwartsgriffiger übersetzt.
Nun hat sich vor kurzem unser Autor-Regisseur Anton Tschechows „Drei Schwestern“ vorgenommen; also überschrieben und inszeniert. Mit dem Alltagsgelaber einer grün-links drehenden Ferienhaus-WG, die besetzt ist mit von wem auch immer alimentierten, ein bisschen wohlstandsverwahrlosten Leuten zwischen 20 und 30. Die quasseln über Politik, Job, Knete, Beziehungsknatsch, Business-New York und Party-Berlin. Die hängen, genervt von der Welt und vom Leben, ab auf dem Sofa. Bruzzeln am Grillset, rocken bisschen rum auf der E-Gitarre, kleben am Smartphone, kiffen, zanken oder entspannen sich bei Schnellsex überkreuz.
Es geht chaotisch zu in dieser Datsche, die unentwegt auf der Basler Drehbühne um sich selbst kreist, um den rasenden Stillstand zu verstärken in diesem schicken Glasgehäuse, in dem Stones bunte Truppe gelangweilter Träumer, cooler Schlaffis, depressiver Alkis, geiler Möchtegern-Abenteurer oder vergeblich Liebender wie bei Tschechow träumt, sich langweilt und auf die Nerven geht.
Ein drastisches Elendsbild von orientierungslosen Leuten, die schon an der Schwelle ihres Erwachsenenlebens ziemlich ausgebrannt sind. Ihre hochmütige Antwort aufs Dasein, das ihnen entgleitet: „Das Leben – ein einziger Beschiss.“
Stone inszeniert das auch herzerweichend, illustriert fantasievoll die unbarmherzige Banalität des Lebens im auf- und abwallenden Seifenopern-Sound. Das fasziniert. Bis es anfängt, schrecklich zu langweilen. Weil: Die unheimlichen Abgründe, die unter besagter Banalität gähnen, das unaussprechliche Seelenleid, das die Ausgebrannten quält – bei Tschechow ist das in jedem Nebensatz gellend präsent ‑, bei Stone jedoch wird alles witzig wortreich eingeseift und erstickt. Er kippt ausgeklügelt pointiertes Heutigkeitsgelaber über die Köpfe der Figuren, das die Seelen dieser armen elenden Gegenwartsmenschen überschwemmt. Stone entseelt Tschechow. Es klappt also nicht zwangsläufig mit der Überschreiberei. Schon gar nicht bei diesem schier unfassbar hintergründigen Psycho-Autor, bei dem alles wirklich Wichtige im Subtext steckt.
Man sollte es also auch lassen können, das vermeintlich „radikale“ Verheutigen, das beim direkten Ibsen eher funktioniert als beim indirekten Tschechow. Vermag doch Stone auch ohne Überschreiberei allein durch Inszenierungskunst zu packen. Durch Lebendigkeit des Spiels, die den dramatisch auf- und abstürzenden Gefühlskurven der Figuren in ihrem Mit- und Gegeneinander eine Selbstverständlichkeit gibt, die frappiert und tief in unsere Alltäglichkeit sticht.
Soll er sich also seine eigenen Stücke schreiben. Oder die allein schon im Original grandiosen altvorderen Klassikerkollegen schlicht unüberschrieben mit trefflichem Witz und präziser Eigensicht in Szene setzten. Wie just in Basel mit einem überwältigenden Ensemble Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“; eine Oper über die Verlust-Schmerzen und Lust-Träume eines jungen Witwers. Die Optik ganz zeitgenössisch, Libretto und Noten genauso wie in der knapp hundert Jahre alten Partitur. Schließlich gilt noch immer: Das Holz, aus dem der Mensch geschnitzt, ist krumm. Und nur aus dem Krummen sind die Dramen und Tragödien, nicht aus zeitgeistigem Überwurf. Egal, ob er in Tunika oder Jeans daher kommt.
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Ein vom Krankheitswahn besessener, nach Klistieren süchtiger Hypochonder und dämlicher Geldsack dazu, der durchtrieben genug ist, mit exzentrischer Egomanie seine gesamte Umgebung zu tyrannisieren, das gibt dem Theater reichlich Futter für zünftiges und en passant vieldeutiges Komödiantentum. Für ein Austoben zwischen Groteske und Farce bis bestenfalls hin zum Tragischen.
Nicht so bei Michael Thalheimer mit seiner Inszenierung von Molières „Eingebildetem Kranken“. Da trampelt, hampelt, zappelt ein grell ausgestelltes Kollektiv kreischender Deppen bei der aberwitzigen Jagd nach Einläufen, Geldbeuteln, Heiratsgenehmigungen 90 Minuten lang immerzu auf der schmutzstarren Stelle in der ansonsten blitzblanken Berliner Schaubühne. Das komödiantische Großvermögen eines Hochleistungs-Ensemble stur und stramm reduziert auf einen einzigen kalt-schrillen Fortissimo-Ton: Grimassieren, Brüllen, Schnellquatschen bis den Exaltierten die Luft ausgeht bei albern vulgär erotischer Gymnastik.
Die Regie langweilt mit der immerhin im Technischen furiosen Performance einer paranoiden Dauerdepression und stinkenden Dauer-Diarrhoe durch fein ekelig-prunkvoll kostümierte, galleböse Pappnasen. Sie gefällt sich allein im platten, im immer gleichen Ausstellen eines lebenszerstörerischen Wahnsinns. Und das stets frontal an der Rampe in einem kleinen engen Kasten – dem weiß gekachelten Klo, der vollgekotzten, voll gekackten Nasszelle, der Drecksgruft als Zeichen für das Irrenhaus Welt (Bühne: Olaf Altmann). Die eine bis zur Entnervung des Publikums monomanisch demonstrierte Botschaft der diktatorischen Regie ist, um im fäkalisch vorgegebenen Bilde zu bleiben: Unser Menschendasein – alles total Scheiße. Eigentlich ganz im Sinne Molières. Der macht daraus einen höllischen Witz, Thalheimer einen peinlichen Pup.
Michael Thalheimer gilt als begnadet gnadenloser Verdichter großer Stücke der Weltdramatik, es gab da unvergessliche und allseits gefeierte Erlebnisse in Hamburg, Frankfurt, Salzburg, im Deutschen Theater Berlin. Da blieb bei aller Stilisierung und Straffung noch immer viel Freiraum für die dramatische Entfaltung großer Schauspieler. Jetzt steckt dieser Regisseur fest in der Sackgasse der Abstraktion. Und erstarrt in der Verklemmung des Spielerischen und Dramatischen durch prononcierte Performation eines einzigen bleiernen Sinnbilds. – Doch immerhin: Er kann, wenn er nur will, ja auch anders …
Schlagwörter: Michael Thalheimer Michael Thalheimer, Querbeet, Reinhard Wengierek, Simon Stone