20. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2017

Hiddensee im Schnee

von Tobias Schwartz

Das ist Hiddensee,
Ed, verstehst du,
hidden – versteckt?

Lutz Seiler,
„Kruso“

Schon wenn die Fähre in Schaprode ablegt, schleicht sich das Gefühl ein: Jetzt gehtʼs ans Ende der Welt. Nur wenige Menschen sind an Bord, einiges an Warentransport und zwei bibbernde Hunde, die sich unter einer Decke aneinanderkuscheln. Eisige Luft, man schmeckt Salz auf den Lippen. Bis auf eine schmale Fahrrinne ist der Bodden zwischen Rügen und Hiddensee zugefroren. Hier sammeln sich in Scharen See- und Wasservögel, darunter Singschwäne, scheue Schellenten, Gänsesäger und aus dem Norden zum Überwintern an die Ostsee gezogene, schneeweiße Zwergsäger. Die Fähre bricht durch schwere Eisschollen. Arktisassoziationen, während am nebliggrauen Horizont schon die kleine Insel zu sehen ist, auf der auch Lutz Seilers großer DDR-Endzeit-Roman „Kruso“ spielt.
In der Luft schreien Möwen, verschiedenste Arten, und plötzlich fällt der Blick auf einen größeren, erhaben kreisenden Vogel. Das sei ein Seeadler, sagt eine Hobby-Ornithologin aus Schwerin, die mitsamt ihrer Fernrohrausrüstung seit Jahren diese Strecke fährt und auf Hiddensee Quartier bezieht, um auf den Salzwiesen der Insel rastende Grau- und Kanadagänse zu beobachten. Sie zeigt auf ein größeres Loch im Eis, an dem sich ganze neun Exemplare der noch in den 1980er Jahren nahezu ausgestorbenen Greifvogelart niedergelassen haben. Bis zu vierzig sollen schon gesichtet worden sein. Auf dem Eis machen sie sich gerade über den Kadaver eines Höckerschwans her, der wohl festgefroren und verendet ist. So nah, wie von der Fähre aus, bekommt man Seeadler, die mit einer Flügelspannweite von bis zu zweieinhalb Metern zu den größten Greifvögeln Mitteleuropas zählen, sonst nicht zu Gesicht.
Hiddensee wirkt im Winter wie ausgestorben. Ab und zu nur begegnet man einem Insulaner, auch Touristen sind im Vergleich zur Sommersaison rar und meistens Stammgäste, überwiegend aus Berlin. Wer zu dieser Jahreszeit auf die Insel fährt, sucht vor allem eines: Ruhe, Abgeschiedenheit, Einsamkeit.
„Der erste Eindruck, den man von Hiddensee empfing, war der von Weltabgeschiedenheit und Verlassenheit. Das gab ihm den grandiosen und furchtbaren Ernst unberührter Natur und dem Menschen, der in dieses Antlitz hineinblickte, jene mystische Erschütterung, die mit der Erkenntnis von den Grenzen seines Wesens und der menschlichen Kultur überhaupt verbunden ist.“ Diese hochtrabenden Zeilen stammen von Gerhart Hauptmann, der die in seinem Theaterstück „Gabriel Schillings Flucht“ Fischmeisters Oye genannte Insel bereits in vortouristischen Zeiten zum Domizil wählte.
Nach wie vor ist die Natur hier Hauptattraktion. Es handelt sich jetzt schon um Glück (oder auch um Pech), anderen Menschen zu begegnen – etwa auf der Wanderung durch den Wald im Norden von Kloster, an der Steilküste entlang oder später am Leuchtturm vorbei über die Hügel des Dornbuschhochlandes bis zum Ende des Altbessins. Dafür tönt das Gezeter von Wacholderdrosseln und Sprossern, den „Nachtigallen des Nordens“, durch die Sanddornbüsche, deren Äste größtenteils bereits gemolken wurden. (Sanddornsaft wird gemolken. Allerdings ist beim Melk-Selbstversuch Vorsicht geboten: der Sanddorn hat unangenehme Stacheln und einzelne Spritzer können bei ungeschickter Technik ins Auge gehen. Das brennt.) Die Vögel machen sich über die übrig gebliebenen prallen Beeren her, die orangefarben durchs schneebedeckte Dickicht leuchten und auch Mitte Januar noch aromatisch sind.
Blaugrau und Orange sind die Farben der Insel, im Winter naturgemäß auch Weiß. Spuren im Schnee verraten die Wege von Fuchs, Reh, Kaninchen und die der lästigen Wildschweine, die hier nicht nur gelegentlich Radfahrer bedrohen oder den Kindergarten belagern, sondern auch – und das ist weit schlimmer – den vor der Flut schützenden Deich umgraben.
Im Warmen, bei einem heißen Sanddorngrog, erzählen die Insulaner gerne solche Geschichten. Tatsächlich muss man mit ihnen erst warm geworden sein, bevor sie damit anfangen, aber beim Grog geht das dann doch relativ schnell. Auch an den ungewöhnlich kalten Winter vor acht Jahren erinnern sich die Hiddenseer lebhaft. Damals war es so kalt, dass die Fähre nicht mehr fuhr und Urlauber samt Gepäck zu Fuß über den Bodden gingen, ungeachtet der Schneewehen. „In den letzten Jahren gab es viel und zuverlässig Schnee“, sagt Kutscher Schulz, der mit seinen zwei Mecklenburger Kaltblütern Udo und Bruno Fahrgäste auch im Winter über die Insel fährt, vorbei an Deich und Salzwiesen, auf denen die Insulaner jetzt Schlittschuh laufen, oder ins Naturschutzgebiet Dünenheide im Süden der Insel, das letzte größere Heidegebiet an der deutschen Ostseeküste. Ein bis zwei Kutschfahrten pro Woche macht Schulz um diese Jahreszeit.
Unter den insgesamt rund tausend Bewohnern von Vitte, Kloster, Grieben oder Neuendorf herrscht übrigens alles andere als harmonische Eintracht. Man hat es hier mit streitbaren Individualisten zu tun, gelegentlich mit veritablen Seebären. Grund für Meinungsverschiedenheiten gibt es immer genug. Abgesehen davon, dass sich die Geister bezüglich des touristischen Winterbetriebs durchaus scheiden – manche freuen sich über die lukrativen Besucher, andere hätten lieber ganz ihre Ruhe –, gibt es zum Beispiel gewisse Neubauten, die polarisieren. „Hiddensees größtes Aquarium“ oder auch „der Schneewittchensarg“ heißt inzwischen im Volksmund der anlässlich des 150. Geburtstages von Gerhart Hauptmann 2012 eröffnete Ausstellungs- und Literaturpavillon des Hauptmann-Hauses – ein modernes, lichtdurchflutetes Glasgebäude, das einen wunderbaren Kontrast zur altehrwürdigen Residenz des naturalistischen Dramatikers bildet. Im Pavillon zu sehen ist die Dauerausstellung „Literaturlandschaft Hiddensee“, die als Hommage an mit der Insel in Verbindung stehende Bücher und Schriftsteller konzipiert wurde. Hiddensee war und ist bekanntlich ein Mekka für Künstler unterschiedlichster Provenienz, allen voran Gerhart Hauptmann, dessen Urteil diesbezüglich eindeutig ausfällt: „Hiddensee war das geistigste aller deutschen Seebäder.“
Neben dem Hauptmann-Haus und dem Heimatmuseum (mit Informationen zur Inselgeschichte und einer eindrucksvollen Bernsteinsammlung), beides in Kloster, hat auch die Homunkulus-Figurensammlung des rührigen Puppenspielers Karl Huck in Vitte während der Wintersaison geöffnet. Sie ist in einem von der Berliner Architektin Johanne Nalbach entworfenen Holzhaus untergebracht, das Urlauber schon mit einer Kirche verwechselt haben – weiterer Stoff für Inselanekdoten. Hier kann man winters die phantastischen, teils ungeheuer filigranen Figuren bewundern, die sommers in der Seebühne Hiddensee zum Einsatz kommen – neben „King Kong“ und „Pinocchio“ hat Huck auch „Lütt Matten und die weiße Muschel“ im Repertoire, Benno Pludras berühmten, auf Hiddensee spielenden DDR-Kinderbuchklassiker. „Das Publikum hier ist sehr aufgeschlossen, zum Teil sogar selbst künstlerisch tätig“, sagt Huck. Und dass die wunderschöne Geschichte ein echtes Geschenk sei.
Sie geht so: Lütt Matten ist traurig, weil er in seiner selbstgebauten Reuse keinen Fisch fängt. Aber er gibt nicht auf und träumt von einer weißen Muschel, die der Legende nach den Fisch bringt.
Ein Hiddenseer Fischer, der am Strand sein Netz säubert, weiß nichts von weißen Muscheln. Aber er entringt seinem wettergegerbten Gesicht doch ein Lächeln über die Frage. „Der Hering kommt“, sagt er und deutet auf die eisige Ostsee, auf die er am nächsten Morgen früh mit seinem Boot hinausfahren wird.
Weit entfernt schlendert ein solitärer Bernsteinsammler über den Sand. Am Horizont senkt sich allmählich die Sonne, der Himmel strahlt in Orange- und Rosatönen. Dahinter, scheint es, ist nichts mehr. Jetzt wird doch so etwas wie die von Gerhart Hauptmann beschriebene „mystische Erschütterung“ spürbar. Ja, man fühlt sich hier wie am Ende der Welt.