von Maria Obenaus
„Wollen Sie mich nicht durch den Louvre führen, ich verstehe gar nichts von Kunst.“ Mit dieser Frage an ihn begann – nach Berichten Max Lingners – eine Liaison zwischen dem deutschen Künstler und der Französin Yvonne im letzten Monat vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Kurz darauf verewigt Lingner Yvonne in einem 99 mal 51 Zentimeter großen Gemälde, das sich heute in der Nationalgalerie in Berlin befindet. Viel ist zu Yvonne nicht überliefert. Lingner selbst war nicht einmal ihr Familienname bekannt. Mit ihren Eltern und einem Bruder lebte sie in einem Pariser Vorort, arbeitete als Buchhalterin in einer Bank und engagierte sich mit der gesamten Familie für die Französische Kommunistische Partei (PCF).
Yvonne war Mitglied der Union des Jeunes Filles de France und mit der Gründerin und Leiterin dieser kommunistischen Jugendorganisation, Danielle Casanova, befreundet. Mit Lingner kreuzten sich die Wege vermutlich erstmalig in der Redaktion der kommunistischen Tageszeitung l’Humanité, bei der er als Grafiker tätig war. „Fahr nach Paris und studier ein oder zwei Jahre die französische Malerei!“, hatte ihm wohl Käthe Kollwitz geraten. Über 20 Jahre blieb der in Leipzig geborene Lingner letztlich in der französischen Hauptstadt. Was für ihn 1928 als Studienaufenthalt begann, wurde zur politischen Emigration.
In Paris gehörte Lingner der 1932 gegründeten Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires (AEAR) an und wurde 1934 Mitglied der PCF. Der ebenfalls im französischen Exil lebende Kunstschriftsteller Paul Westheim schrieb 1939 in der Pariser Tageszeitung über Lingner: „Er hat angefangen das Pariser Volk, Arbeiter und Arbeiterinnen, darzustellen, wie sie sind und wie sie leben. Nicht nur so ‚Bilder mit sozialem Motiv‘, was eine Sache für sich ist, sondern den Pariser Arbeiter, wie er […] sein Leben lebt, das anders ist als das Leben auf den grands boulevards, aber nicht minder charakteristisch.“
Charakterstark tritt auch Yvonne in Lingners Gemälde auf. Über den Sommer 1939 schrieb der Künstler: „Nirgends können Verliebte so ungestört sein wie im vornehmen und in dieser Jahreszeit menschenverlassenen Auteuil, wo ich wohnte, und dessen gesamte Einwohnerschaft sich in ihren Schlössern in der Provinz befand. Nur die Concierges, die Katzen und die Maler waren zurückgeblieben. Der August 39 ging rasch zu Ende und mit ihm auch der Friede.“ Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Lingner als „dangereux agitateur communiste international“ eingestuft und verhaftet. Die folgenden fünf Jahre verbrachte er in verschiedenen Internierungslagern, unter anderem war er über ein Jahr lang im größten französischen Lager Gurs.
Nachdem die FKP bereits im ersten Kriegsmonat verboten worden war, unterstützte Yvonne die Résistance durch Kurierdienste. Sie wurde entdeckt, verhaftet, gefoltert und nach Auschwitz deportiert. Dort traf sie Danielle Casanova wieder, die im Februar 1942 verhaftet und ein Jahr später mit weiteren 230 Résistance-Kämpferinnen nach Auschwitz deportiert worden war. Gemeinsam arbeiteten die jungen Frauen im Lazarett. Casanova starb am 9. Mai 1943 an Typhus. Laut Berichten von Mitgefangenen verlor Yvonne zwei Tage danach ebenfalls ihre Lebenskraft. Nachforschungen in diversen Archiven und Gedenkstätten haben bisher zu keiner Identifizierung von Yvonne geführt.
Danielle Casanovas wird in Frankreich heute durch die Benennung von Straßen, Schulen und einer Fähre zwischen Marseille und Korsika an unterschiedlichen Stellen gedacht. Und Yvonne? Für sie schuf Max Lingner 1939 ein Denkmal auf der Leinwand. Es gehört heute zu den bekanntesten Werken des Künstlers. Die Unbeugsamkeit der forsch auftretenden, schönen Frau, die mit erhobenem Haupt selbstbewusst dem Betrachter entgegenschreitet, sticht aus Lingners zahlreichen Frauen- und Mädchendarstellungen heraus. Monumental nimmt sie den gesamten Bildraum ein, der Hintergrund ist nur angedeutet. Yvonnes mitreißender Optimismus und ihr weiblicher Charme imponierten dem Künstler, aber er sah darin über das Persönliche hinaus auch eine gesellschaftlich-politische Dimension, wie Lingner in seiner Autobiografie ausführte: „Mehr als den eigenen Landsleuten war mir als Deutschem immer schon die Bedeutung der französischen Frau im öffentlichen Leben, im Parteileben, in der Illegalität, der Widerstandsbewegung und im Kampf für Freiheit und Frieden aufgefallen, und oft hatte ich ihre fröhliche Zuversicht, ihren leidenschaftlichen Heroismus mit Feder und Pinsel verherrlicht.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Sommer 1949, überreichte Lingner anlässlich seiner Rückkehr nach Deutschland das Gemälde „Mademoiselle Yvonne“ in einem Konvolut von 40 Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen dem Deutschen Volksrat der Sowjetischen Besatzungszone als Vertretung des „deutschen Volkes“. Lingner erläuterte in der Schenkungserklärung: „Nach meiner Rückkehr aus der Emigration ist es mein Wille, mit allen meinen Kräften in den Reihen derer mitzuwirken, die sich die Demokratisierung Deutschlands und die Entwicklung eines fortschrittlichen antifaschistischen Bewußtseins im deutschen Volk zum Ziel gesetzt haben.“ Das Konvolut wurde zuerst in Berlin, im Haus des Deutschen Volksrats ausgestellt und anschließend in Leipzig, Erfurt, Schwerin, Halle und Dresden gezeigt. In der DDR gehörte Lingners Kunst schnell zum allgemeinen Bildungsgut. Vor allem war es seine „Mademoiselle Yvonne“, die bekannt wurde und auf Ausstellungen zu sehen war. So beispielsweise 1958 in der Deutschen Akademie der Künste, oder 1978 im Museum der bildenden Künste in Lingners Geburtsstadt Leipzig. 1980 reiste sie auf eine Ausstellung nach Warschau, anschließend nach Moskau und Sofia. Anlässlich des 25. Todestages des Künstlers kehrte „Mademoiselle Yvonne“, die zum Sinnbild der Zeit Lingners in Frankreich geworden war, für eine Ausstellung im Kulturzentrum der DDR nach Paris zurück. Einen Höhepunkt erfuhr die Bekanntheit Yvonnes zu Lingners 100. Geburtstag im Jahr 1988. In der Nationalgalerie auf der Museumsinsel war eine große monographische Ausstellung zu sehen und das Motiv der Yvonne wurde als Briefmarke in Umlauf gebracht, was den Bekanntheitsgrad der jungen Résistance-Kämpferin im schwarzen Kleid noch einmal erhöhte.
Im vergangenen Jahr zeigte die Nationalgalerie das Gemälde erneut. In der Ausstellung „Die schwarzen Jahre. Geschichten einer Sammlung. 1933-1945“ wurde das individuelle Schicksal der dargestellten Frau erzählt. Die Einzelgeschichte steht jedoch auch repräsentativ für historische Ereignisse, politische Systeme und die Kanonbildung einer Gesellschaft. Max Lingner malte nicht nur das Schicksal und die Stärke einer Französin. Er schuf mit „Mademoiselle Yvonne“ vielmehr ein Denkmal für die Frauen der Résistance und damit einen Heldentypus.
Dr. Maria Obenaus ist Wissenschaftliche Museumsassistentin i. F. der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin.
Schlagwörter: Malerei, Maria Obenaus, Max Lingner, Nationalgalerie, Résistance