von Erhard Crome
Die Abgeordnete Sevim Dagdelen hat nicht nur mit zahlreichen Anfragen und kritischen Beiträgen im Bundestag maßgeblich zum außenpolitischen Profil der Linken beigetragen. In Sachen Recep Tayyip Erdogan hat sie bereits frühzeitig vor den autokratischen Ambitionen und vor den machtpolitischen Zielen der Türkei im Nahen und Mittleren Osten gewarnt. Zu Zeitpunkten, da die deutsche Regierungspolitik ausschließlich auf enge Kooperation ausgerichtet war und die diktatorischen ebenso wie die islamistischen Tendenzen des früheren türkischen Ministerpräsidenten und jetzigen Präsidenten verniedlichte. Die zunehmende Islamisierung der Türkei wurde unter Demokratisierung verbucht, der Fall laizistischer Prinzipien unter Schwächung der kemalistischen Autokratie. Jetzt hat Dagdelen ein Buch über den „Fall Erdogan“ geschrieben. Es enthält viele schon für sich genommen sehr aufschlussreiche und lesenswerte Abschnitte, von den Hintergründen des Putschversuchs im Sommer 2016 und Erdogans Gegenputsch, über die Gülen-Bewegung – mit der Erdogan zunächst gegen den kemalistischen Staat verbündet war, sich mit ihr dann jedoch überwarf – und den „Fall Böhmermann“ bis zu dem neuerlichen Krieg gegen die Kurden und den Netzwerken Erdogans in Europa.
Der Untertitel des Buches – „Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft“ – ist allerdings etwas irreführend. Dagdelen betont immer wieder, wie die deutsche Politik tatsächlich oder scheinbar vor Erdogans Erpressungstaktiken einknickt. Sie stellt insgesamt jedoch breiter angelegt dar, dass die Bundesregierung nicht einfach deutsche Positionen verkauft, die im Namen der Demokratie und der Menschenrechte in anderen Fällen mit Eifer beschworen werden, sondern dafür etwas einkauft: geopolitische Positionen für eine Möchtegern-Weltmacht, Deutschland als geoökonomische Macht mit globalen Interessen.
Das Vorwort hat Can Dündar beigesteuert. Zur Erinnerung: Dündar war Chefredakteur der Istanbuler Tageszeitung Cumhuriyet. Die berichtete im Mai 2015 über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Milizen in Syrien. Der Chefredakteur wurde deshalb der Spionage bezichtigt, inhaftiert und verurteilt. Dagegen legte er Revision ein. Während Dündar auf die Urteilsverkündung wartete, wurde auf offener Straße am 6. Mai 2016 ein Schusswaffenattentat auf ihn verübt. Das Gericht hob danach das Ausreiseverbot gegen ihn auf, er konnte die Türkei verlassen. Nach dem Putschversuch und Erdogans Gegenputsch erklärte Dündar im August 2016, er werde vorerst nicht wieder in das Land zurückkehren. Schon mit diesem Vorwort ist Dagdelens Buch eine Bekundung für Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit.
Dündar betont: „Wir sind nicht in Deutsche und Türken getrennt. Wir sind gespalten in Türken und Deutsche, die an Demokratie, Freiheit, Frieden, Recht und Gerechtigkeit, Arbeit und Engagement, Menschenrechte und Gleichberechtigung von Mann und Frau glauben, auf der einen Seite – und Türken und Deutsche, die nicht daran glauben, auf der anderen.“ Sevim Dagdelen liefert mit ihrem Buch ersteren wichtige Argumente.
Grundproblem des von Merkel ausgehandelten EU-Türkei-Deals ist, dass er zur Gefahr „nicht nur für die Menschenrechte der Flüchtlinge“ wurde, „sondern auch für die Grundrechte aller Unionsbürgerinnen und -bürger“. Jeder neue Besuch Angela Merkels, jede neue Geste von Seiten der EU „war für Erdogan Ermutigung“. Im Herbst 2015 wollte Merkel unbedingt Erdogans Unterstützung für ihre Flüchtlingslösung. Dafür reiste sie auch kurz vor den Parlamentswahlen in die Türkei und unterstützte „Erdogans Wahlpirouetten, mit denen er betrügerisch versuchte, die absolute Mehrheit nach der Wahlschlappe im Juni 2015 für sich zurückzuerobern“. Um die Flüchtlingsfrage herum wurde eine neue „Achse Berlin-Ankara“ geschmiedet. „Die Türkei wurde zum besten Verbündeten Deutschlands in Europa.“ Die EU-Kommission agierte in der Frage des Flüchtlingsdeals mit der Türkei, als sei sie „nicht mehr als eine Unterabteilung des Auswärtigen Amtes“. Der Deal ist Ausdruck und zugleich Befestigung der deutschen Hegemonie in der Europäischen Union.
Allerdings gingen beide Seiten von entgegengesetzten Perzeptionen aus: Erdogan meinte, die EU brauche die Türkei mehr als die Türkei die EU. In Berlin sah man das umgekehrt. Dagdelen bezieht sich hier auf Uwe Corsepius. Das ist einer der Akteure, die gern im Schatten wirken. Der Mann hat früher für den Internationalen Währungsfonds gearbeitet, war dann Generalsekretär des EU-Ministerrates – einer der wichtigsten Drahtzieherposten in der EU, in der Öffentlichkeit weithin unbekannt – und ist seit Sommer 2015 Leiter der Europaabteilung des Bundeskanzleramtes. „Er gilt als glühender Transatlantiker.“ Was meint, die im Bundeskanzleramt gemachte Europapolitik korreliert mit den Beziehungen Deutschlands zu den USA. Da passt ein enges Verhältnis zu Erdogans Türkei, die für den Sturz Baschar al-Assads in Syrien wirkt, gut ins Bild. Zumindest solange die USA-Politik von Barack Obama bestimmt wird.
Die deutsch-türkische Zusammenarbeit hat ihre materielle Grundierung: Mit einem kumulierten Investitionsvolumen von über zwölf Milliarden Euro seit 1980 ist Deutschland der größte ausländische Investor in der Türkei. Der beiderseitige Handelsaustausch hatte 2015 einen Wert von 36,8 Milliarden Euro, davon türkische Lieferungen nach Deutschland von 14,4 Milliarden und deutsche Exporte in die Türkei in Höhe von 22,4 Milliarden Euro. Der deutsche Exportüberschuss machte also acht Milliarden Euro aus.
Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 hatte Erdogan die erstrebte verfassungsändernde Mehrheit nicht erreicht. So verlor er das Interesse am Friedensprozess mit den Kurden. Es kam zu einem neuerlichen Krieg beziehungsweise Bürgerkrieg, der ihm ein für allemal die Macht sichern soll und in dem sich auch die islamistische Bewegung im Lande weiter radikalisiert. „Es wäre absurd zu glauben“, schreibt Dagdelen, „die große Säuberungswelle, bei der über 60.000 Staatsbedienstete entlassen und suspendiert wurden, wie auch die Verhaftungen von mehr als 18.000 Menschen im Gefolge des gescheiterten Putsches richteten sich in ihrer großen Mehrzahl gegen die Gülen-Sekte oder die Putschisten selbst.“ Vielmehr gehe es Erdogan darum, „das Rad der Geschichte […] zurückzudrehen und ein verlorenes Reich wiederzuerrichten.“
Zwecks Landschaftspflege im Verhältnis zu Erdogan distanzierte sich die Bundesregierung im September 2016 in gewundenen Worten von der Armenien-Resolution des deutschen Parlaments. Der Bundestag hatte am 2. Juni 2016 mit überwältigender Mehrheit die Verbrechen an Armeniern im Ersten Weltkrieg als „Völkermord“ verurteilt. Etwa 1,5 Millionen Menschen waren Opfer jenes schrecklichen Mordens geworden. Als Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg 1915 danach gefragt wurde, antwortete er: „Unser Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“ Ganz in dieser Tradition will Deutschland die Türkei heute an seiner Seite halten, „auch wenn die Kurden darüber zugrunde gehen.“
Sevim Dagdelen: Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft. Mit einem Vorwort von Can Dündar, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2016, 224 Seiten, 18 Euro.
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