von Wolfgang Brauer
Am 19. September 2012 gab der Berliner Ernst-Busch-Chor ein Konzert im Willi-Münzenberg-Saal des nd-Gebäudes am Franz-Mehring-Platz. Der Chor würdigte Hanns Eisler anlässlich dessen 50. Todestages. Ich hatte Glück und saß in der ersten Reihe, der Platz rechts neben mir war leer. Plötzlich erschien Gisela May – ich gebe es zu, ich war aufgeregt wie ein Schulkind. Aufgeregter war wohl nur noch sie. Das ganze Konzert über rutschte sie unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Nur mühselig konnte sie sich zusammenreißen, um nicht nach vorn zu stürzen und sich in den Chor einzureihen. Natürlich kam es, wie es kommen musste. Am Ende ging sie doch nach vorn. Die „Busch“-Frauen strahlten. Es war klar, was die May singen wird: „Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand…“, Brechts angesichts heutiger deutscher Zustände das Herze zerreißende „Kinderhymne“ und das Gegenmittel, dieser Zustände Herr zu werden, das „Solidaritätslied“.
Anderthalb Jahre vorher, am 15. Januar 2011, hatte Manfred Karge eine umjubelte Hanns-Eisler-Revue auf die Bühne des Berliner Ensembles gebracht. Das Publikum schwankte zwischen Euphorie und Sprachlosigkeit. Am Ende der Pause stand vor der Rampe im Parkett eine ältere Dame und begann mit einer Lobesrede auf den Eisler – nach wenigen Worten war allen klar: die May… Nach wenigen Sätzen eine scharfe Stimme aus dem Off: „Frau May, jetzt ist es aber genug!“ Claus Peymann, der Hausherr. Er kanzelte sie mit rüdem Ton ab. Sie verließ den Saal.
Seien wir gerecht: Dass Gisela May an jenem Abend die Gefühle durchgingen, war verständlich. Hanns Eisler war schuld daran, dass aus der zwar begabten, aber dennoch nur Nachwuchsschauspielerin Gisela May die große Diseuse, eben Die May, wurde. Das war 1957, sie spielte noch am Deutschen Theater. Sie nannte die Begegnung mit Eisler schlicht „einen Glücksfall“. Für die deutsche Theaterkunst war sie das auch. Mit großer Herzenswärme übrigens erinnert sie in ihrem Buch „Es wechseln die Zeiten“ auch an Wolfgang Langhoff, dem eine dogmatische Kulturpolitik das Sterben beschleunigte. Eisler brachte sie zu ihrem wohl „Eigentlichen“: Brecht und Brecht und immer wieder Brecht. In den Vertonungen von Eisler, Kurt Weill, Paul Dessau, Hans Dieter Hosalla.
1962 wurde Gisela May von Helene Weigel an das Berliner Ensemble geholt. Sie gab die Frau Peachum in der „Dreigroschenoper“, spielte Shaws „Frau Warren“ und ab 1978 die Courage in Brechts „Mutter Courage“. Eine Glanzrolle, aber eine tückisch schwere dazu. Und dann in diesem Hause in der direkten Nachfolge der Weigel! Es gab viele, die Gisela May seinerzeit schauspielerische Hybris vorwarfen – die mussten sich alle trollen. Die May meisterte die Courage mit Bravour. Dieses Kunststück gelang erst wieder Carmen-Maja Antoni, aber dreißig Jahre später. Gisela May gab die Courage dreizehn Jahre lang, bis 1992. Einer theaterzerstörerischen „Fünferbande“ – von der jeder Einzelne für sich eine honorige Persönlichkeit war, das war die Tragik des Ganzen – fiel auch Gisela May zum Opfer. Sie flog raus. Ihre letzte Vorstellung vor einem Publikum, das sich seiner Tränen nicht schämte, war die „Mutter Courage“.
Und auch Claus Peymann soll hier Gerechtigkeit widerfahren: Er war es, der Gisela May ab 2007 wieder die Türen des Hauses am Schiffbauerdamm öffnete. Regelmäßig war sie dort mit Kurt Tucholsky zu erleben… „General! General! Wag es nur nicht noch einmal“, „Mutterns Hände“ und dazu Walter Mehring und Erich Kästner. Es soll sich glücklich schätzen, wer diese Frau auch nur einmal erlebt hat. Diese Stimme war gedächtnisprägend. Das „Moldau“-Lied aus dem Brechtschen „Schwejk“ habe ich nur in zweierlei Stimmlagen im Gedächtnis: mit dem unvergleichlichen Eislerschen Krächzen und natürlich die Interpretation der May. Die ist unauslöschlich eingebrannt.
Von Günter Gaus „Zur Person“ befragt, verriet sie das Geheimnis ihrer Wirkung, auch noch im hohen Alter: „… Leidenschaft. Die Leidenschaft zu meinem Beruf ist mir geblieben und die wird mir ewig bleiben.“ Das war es – und ein auch der Grand Dame des deutschen Chansons erhalten gebliebenes untrügliches Sensorium für soziale und politische Ungerechtigkeiten, gepaart mit dem Willen, wo immer es geht, dagegen aufzubegehren: „Und wenn ich spüre, dass jemand etwas will, das für meine Begriffe zu Veränderungen in der Gesellschaft führt, dann gehe ich mit.“ Das sagte sie 2014 in einem Fernsehinterview. Da war sie 90 geworden. Das war nicht einfach so daher gesagt. Um ihren „80.“ herum erlebten wir sie zu einer Lesung im Karl-Liebknecht-Haus am Rosa-Luxemburg-Platz aus dem erwähnten Erinnerungsbuch. Wer es aufmerksam liest, findet dieses Credo dort als den roten Faden ihrer Biografie. Übrigens stand sie am Ende dieser Lesung auch auf und sang. A cappella. Mit achtzig Jahren …
Ich glaube, so richtig können wir noch nicht ermessen, was wir am 2. Dezember 2016 mit dem Weggang Gisela Mays verloren haben. Ich fände es gut, wenn in Berlin künftig, vielleicht durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung, ein „Gisela-May-Preis“ für junge Interpretinnen des politischen Chansons vergeben wird. Das würde ihr gefallen.
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