19. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2016

Bildung?

von Heino Bosselmann

Weil das, was gegenwärtig für „Bildung“ gehalten wird, angeblich die Verbesserung des Gesellschaftlichen und Sozialen ebenso verheißt wie überhaupt allen Segen – von Demokratie bis Weltmarkt –, avancierte das Gymnasium längst zur neuen Gesamtschule der Republik. Mehr Abi, mehr Job, mehr Glück, mehr Gerechtigkeit, alles am einfachsten per Dekret. Tendenziell vierzig Prozent der deutschen Schüler sind Gymnasiasten, gern sollen es die Hälfte, ja bitte noch mehr werden; und es verwundert daher, dass noch immer dieser antiquiert humanistisch-humboldtsche Begriff für eine derartige Durchgangsschule herhalten muss – umso mehr, weil ja nicht nur die alten Sprachen für die marktgerechte Ausbildung kaum mehr eine Rolle spielen, sondern mittlerweile fast ebenso wenig die deutsche Muttersprache.
Nicht nur, dass ein literaturgeschichtlicher Kanon kulturpolitisch längst als reaktionär gilt; es gibt auch keine Fehlerquoten im Abitur mehr. Denn bekanntlich diskriminieren Fehler ja, also sollen sie besser keinem im Weg stehen, schon gar nicht in den gerechten Zeiten der Inklusion. Was sich als schwierig erweist, Selbstüberwindung und Anstrengungsbereitschaft verlangt, was gar um seiner selbst willen als kultureller Wert gelten wollte, das qualifizierte Lesen und Schreiben etwa, muss raus. Damit wird allerdings gleichfalls das eigentlich Interessante „outgesourct“, beginnt es doch meist erst dort, wo intellektueller Einsatz erfordert ist.
Um über die „Bildung“ eine Gerechtigkeit im Schutz des Schulhauses herzustellen, von der die Gesellschaft selbst mit Blick auf Einkommens- und Vermögensverhältnisse weiter denn je entfernt ist, wurden über die letzten beiden Jahrzehnte – beschleunigt durch eine fragwürdige PISA-Messung und deren noch fragwürdigere Deutung – wesentlich pädagogische Ziele geändert, Inhalte ausgedünnt und überhaupt alles von der Substanz weg auf die Methoden und vermeintlichen „Kernkompetenzen“ verlegt, unter anderem auf effekthascherische Präsentationstechniken, an denen der alleinseligmachenden Wirtschaft so liegt. Kurz: Mehr Schein als Sein, viel Lärm um nichts, eher Werbung als Wert.
Wichtiger als Duden, Schulbibliothek, Periodensystem und Differentialrechnung scheint das Politische. Welch eine Vielzahl von Initiativen! Schule für Courage, Schule gegen Rassismus, gewaltfreie Schule sowieso, Schule gegen Homophobie, europäische Schule, Schule für Inklusion, alles für Demokratie und Toleranz, alles gegen Rechts, alles für „Mehr Europa!“. – Man mag diese Ziele erstrebenswert finden, solange davon über die propagandistisch anmutenden Bekenntnisse hinaus etwas Entscheidendes umgesetzt würde, aber die Schule erscheint damit durchideologisiert von den „politischen Grundvereinbarungen“ oder besser Wunschvorstellungen der neukapitalistischen Mitte. Einerseits. Andererseits mag gerade diese aufdringlich plakative Politisierung in jene Politikverdrossenheit führen, die trotz der Kampagnen so beklagt wird. Offenbar erleben viele Heranwachsende die allzu offiziellen, allzu gängigen, allzu glatten Slogans als das, was sie sind, nämlich als aufgeblasenen Phrasen und leere Inszenierungen, mit denen sich für sie wenig verbindet. Das große Friedensgebaren der EU ist dem Duktus nach schon ziemlich dicht bei der Rede von der „unverbrüchlichen Freundschaft zum Lande Lenins und den Völkern der Sowjetunion“, mit der meine DDR-Generation aufwuchs.
Nur: Zum Beurteilen etwa des akuten Flüchtlingsproblems gehört zunächst das Begreifen der komplexen Zusammenhänge, die dazu führten. Dazu wiederum bedarf es genauer Kenntnisse. Welches Fach bildet sie aus? Geographie? Sozialkunde? Neuere Geschichte? Deutsch gar, indem das Fach vielleicht Zeitungen zur Hand nähme, die junge Menschen kaum mehr lesen? – Mitnichten! Die immer noch reiche deutsche Presselandschaft blüht gerade im Lehrerzimmer nicht. Nicht mehr. Stattdessen wird das Heil im Unterricht wie überall in billigen Vereinfachungen auf BILD-Niveau gesucht: „Assad führt Krieg gegen das eigene Volk!“ Aha! „Assad wirft Faßbomben!“ Oje! – Dass damit nicht viel gesagt, wohl aber auf unlautere Weise emotionale Wirkung erzeugt ist, stört niemanden. Bloßes Meinen gilt als Urteilen. Das Nachgeplapper  reicht wieder aus, die Worthülserei. Sie funktioniert durchgehend und bislang verlässlich. Symptomatisch für Vorwendejahre?
Vorm Hintergrund medialer Verblödung vor all den Screens und innerhalb von politischen Blasen der Verlautbarungsrhetorik erscheint – in freilich verändertem Zusammenhang – das mahnende Böckenförde-Diktum der Alt-BRD von 1976 im neuen Warnlicht: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn er die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritären Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsgrund zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Dies gerade nach langem mal wieder lesend, bedenke man noch: Welche „Freiheit“ – häufig verwendetes Lieblingswort des Bundespräsidenten – ist eigentlich immer gemeint, über jene hinaus, bei „H & M“ so viel einzukaufen, wie man möchte, wenn der Zaster stimmt? Ferner: Wie steht es mittlerweile mit der „Homogenität“ der Gesellschaft? Ist das neuerdings nur mehr noch eine historische Kategorie, ähnlich wie der „säkulare Staat“ und, mehr noch, die schon als Begriff verpönte „Nation“? Ist es uns nicht bereits zu selbstverständlich geworden, dass der moderne Staat aus konfessionellen Kriegen herausgeführt hat? Laufen wir nicht – „postmodern“ – Gefahr, wieder genau in diesen Konflikt zurückzufallen? – Dann freilich gnade uns Gott.
Bildung – und Erziehung gar! – wäre eine Möglichkeit, davor zu bewahren, nur müsste sie dazu wieder aufleben, statt zu verphrasen oder sich politischen Ideen ebenso anzudienen wie wirtschaftlichen Verwertungsbedingungen.