von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Doppel ‑ Künstler-Intendant und Dramaturgie-Dogmatiker jeweils mit Erinnerungsbüchern übers Berliner Wiedervereinigungstheater…
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„Die Zeit vergeht, und wir vergehen.“ Mit fein gefärbter Melancholie (die nebenher das Offenlegen seiner Parkinson-Erkrankung einschloss) präsentierte Dieter Mann in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin seine im Aufbau-Verlag erschienene Autobiografie mit dem fein sinnigen Titel „Schöne Vorstellung“.
Das in lebensfrohem Knallgelb eingebundene 300-Seiten-Buch entstand in Gesprächen mit dem überaus kenntnisreichen Kollegen Theaterkritiker und wortmächtigen Buchautor Hans-Dieter Schütt. Schütt entrang dem großen Schauspieler seine gesammelten Bekenntnisse, Einsichten und Weisheiten bezüglich des Berufs, der Gesellschaft („25 Jahre DDR, 16 Jahre BRD“), des Lebens überhaupt. Und das mit Hingabe sowie vornehm kritischer Distanz.
Eine bewegende Veranstaltung, diese Buchvorstellung. War doch Dieter Mann von 1964 bis 2006 im Engagement am DT (von 1984 bis 1991 auch als Intendant). Ein Hochleistungsinstitut mit teils erschlagend großer Tradition. Galt es doch über Epochen hinweg als heimliches deutsches Nationaltheater; zu DDR-Zeiten firmierte es als erstes Staatstheater des Landes. Immer aber war es ruhmreiche Heimstatt der Spitzen des Gewerbes. Auch im Sozialismus ließen die sich ‑ trotz beachtlicher Privilegien – mehrheitlich nicht zu blindem Gehorsam zwingen gegenüber der rigiden Staatsführung. Als Intendant war der Genosse Mann freilich besonders gebunden an diese gern irrwitzig agierende Allmacht. Aber: Er stand sein für jeden Charakterkopf heikles Amt durch mit Würde, mit Mut zu (gewieftem) Widerstand und Kompromiss und nicht zuletzt mit der ihm eigenen kühlen Grandezza. Man kann einiges davon (sonderlich zwischen den Zeilen) nachlesen. Wobei Dieter Mann alles Selbstdarstellerische oder Besserwisserische, was ohnehin billig wäre im Nachhinein, völlig fern liegt – wie überhaupt das verkniffen schimpfende Wühlen im Präteritum, das bis heute gern betrieben wird zum Zwecke eitler Selbsterhöhung.
„Schöne Vorstellung!“, das wünscht man allabendlich dem Publikum beim Kartenabreißen. Das wünschen sich allabendlich die Kollegen untereinander. Und eine „schöne Vorstellung“ ist das Buch tatsächlich insofern, da es packend und dabei doch nüchtern und sympathisch abgeklärt von der jüngsten, so extrem wechselvollen, mithin besonders spannenden DT-Geschichte erzählt, die zugleich ein zentrales Stück DDR-Theatergeschichte einschließt. Das Besondere, Schöne dieser Erzählung aber ist ihre gelassene Grundstimmung; ist die starke Liebe und feste Treue zur Sache der Kunst. Es sei, so der Autor ironisch, ein Resümee mit dem im Alter aufkommenden Hang zur „Hoffnungsrederei“. Womit auch gemeint sein könnte, dass gewisse wohl ewig währende Missstände (und Katastrophen) im Theaterbetrieb nicht überhand nehmen mögen. Der im Parkett anwesende gegenwärtig amtierende DT-Intendant, der seinen Ex-Kollegen mit sichtlicher Hochachtung begrüßte, blickte sonderlich an dieser Stelle verständnisinnig auf…
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Dieter Manns gelassen kritischer Blick zurück ist das krasse Gegenstück zu den ein halbes Jahr zuvor im Alexander-Verlag erschienenen Tagebüchern 1991-1996 von Michael Eberth. Eberth, 1943 am Bodensee geboren, war der im vermeintlich frischen Westwind auftrumpfende, notorisch glücklose und darunter schwer leidende und als „West-Wolf“ beschimpfte, letztlich also tragische Nachwende-Chefdramaturg des DT. Sein Buch (gleichfalls 300 Seiten) unter dem hämisch gemeinten Titel „Einheit“ ist, durchzogen von Hass, Rechthaberei und wütenden Ressentiments, eine geballte Abladung von Frust. Oder: Eine Abrechnung mit den ihm fremd gebliebenen Ost-Künstlern, die er kaltschnäuzig und pauschal als bestellte Propagandisten abtut. Sonderlich beträfe das die im Theater und erst recht die im DT. Folglich erzählt sein Erfahrungsbuch mit DDR-Theaterkunst (am DT) von der Unvereinbarkeit simpler „Ost-“ und reicher „West-Kunst“, womit Eberth auch sein Scheiten als DT-Chefdramaturg begründet. Und er folgert vom Persönlichen, aus seinen klein-subjektiven Misslichkeiten heraus ins großformatig Gesellschaftliche, in den ganz dicken Pessimismus: Die deutsch-deutsche Fusion sei halt nicht nur im Künstlerischen gescheitert, sondern überhaupt. Also keine Einheit.
Eberth, der verstiegene Theoretiker aus Süddeutschland und ein Mann völlig frei von Hoffnungsrederei; und daneben der zwei Jahre ältere (Ost-)Berliner Praktiker Dieter Mann als zwei äußerst gegensätzliche Naturen. Beide lieben das Theater hingebungsvoll; leiden wohl auch, jeder auf seine Weise, an ihm, an der Unerreichbarkeit der Vollendung. Ein Leid, das schließlich jeden im Kunstbetrieb Tätigen befällt. Doch in der Theaterpraxis wirkten beide, als stünden sie auf verschiedenen Kontinenten. Der eine, engagiert von Manns Nachfolge-Intendanten Thomas Langhoff, klebte unentwegt an seinen Dogmen. Die Folge: Er verbitterte; verkrustete durch Fehlentscheidungen, unerfüllte Sehnsüchte, Kommunikationsblockaden.
Der andere, Dieter Mann, hatte als Vorwende- und Wende-DT-Intendant freilich auch seine Prinzipien. War aber, auch aufgrund seiner grandiosen Karriere als Schauspieler, sehr viel freier und offener als Eberth für die zuweilen gleichfalls verzweifelte Suche nach dem Spiel, der Ambivalenz, der Entgrenzung, der Poesie – und triumphierte, wohl nicht zuletzt auch durch sein durch Tradition geprägtes, geradezu klassisches Qualitätsbewusstsein, als grandioser Künstler.
Der geborene Westler hatte, warum auch immer, beim Einzug in den Osten Scheuklappen installiert. Der geborene Ostler hatte, erfahren im Umgang mit Dogmen, also trainiert in Einfühlung mit Gegnern sowie durch DDR-Staatstheater-Privilegien (Westreisen) weltläufig geworden, längst keine Scheuklappen (mehr). Und er war ein Star! Das prägte seine Arbeit als DT-Chef und als Künstler in immerhin dogmatischen Zeiten. Erfolg (und nicht zuletzt ein nüchtern scharfer Blick aufs Leben) macht souverän – auch im Verfassen von Memoiren. Das macht den Unterschied dieser beiden lesenswerten Bücher.
Zurück zum „Ost-Wolf“ Dieter Mann, der sich das „Wolf“ gewiss verbitten würde. Doch letztlich trifft es; er konnte sehr wohl heftig und schmerzlich zubeißen. Obgleich sein Fach das elegante scharfe Florett-Fechten war, das Agile, Kaltblütige, nicht das Heiße und Blutige. Ein Cooler, würde man heute sagen. Und doch sagt er von sich (ein bisschen kokett?), er sei in schwerem Fahrwasser als Chef an der deutschsprachigen Theaterspitze „entscheidungsschüchtern“ gewesen. Mag sein. Er ist aber eben immer auch ein starker Typ mit starken Sensoren für Kunst und Leben und Welt. Deshalb sein Drei-Worte-Credo (nicht zufällig) im Geist des weltläufig konservativen Macht-Politikers Antonio, einer klugen Figur aus Goethes „Tasso“, den er anno 1975 am DT spielte: „Streben, Denken, Sagen“.
Und er sagt, Theater sei Arbeit am Möglichkeitssinn im Wechselspiel zwischen Überwindung und Überwältigung. Als Schauspieler fresse er ganze Stücke zwischen seine Lippen, bis sie einen Wesensschrei ausstießen. Als Ost-Künstler sei man einst gefordert worden, Wahrheiten auszustoßen von der Bühne herab. Man sollte den „Zweifelzerstreuer“ geben – ein oft unbefolgtes Diktat, das Eberth fatalerweise für absolut wirkend nahm. Heutzutage würden sich, so Dieter Mann, vermeintliche oder echte Wahrheiten oft gegenseitig aufheben. Das mag ja vielleicht entspannen. Doch werde man so womöglich unversehens zum Entertainer, zum Komiker, zum Flachdenker und schlimmstenfalls zum Lügner. Aber wäre das ein Fortschritt? – Solcherart Fragezeichen durchziehen Manns ganze „schöne Vorstellung“…
Und am Ende, vor dem Fallen des Vorhangs auf seinen letzten Seiten, steht rück- und vorwärtsschauend Dieter Manns feinsinnige Bemerkung über den Schauspieler als das „verletzlichste Kind der Kunst“, als „blinder Wanderer auf den steinigen Feldern der Sehnsüchte“, der, manchmal vielleicht, man gibt sich demütig, etwas wie Glanz fände. Eine gewisse Tröstlichkeit. Was für eine schöne Vorstellung.
Schlagwörter: Deutsches Theater Berlin, Dieter Mann, Hans-Dieter Schütt, Michael Eberth, Querbeet, Reinhard Wengierek, Schauspielkunst