19. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2016

Großstadtgeheimnisse

von Erhard Weinholz

Irgendwann vor vielen Jahren wurde von einer der Hauptstraßen hier im Prenzlauer Berg an mehreren Stellen der Asphalt entfernt. Zum Vorschein kam das wohlerhaltene alte Straßenpflaster. Eigentlich war es nicht verwunderlich – was hätte sonst darunter sein sollen? Und doch war ich überrascht.
Die Vorstellung, dass hinter dem, was wir sehen, der Oberfläche, der Erscheinung, verborgen das Eigentliche steht, das wir Wesen nennen, Gesetz oder Gott, diese Vorstellung ist ja ein Grundzug unserer Kultur. Mit viel Mühe suchen wir dies Verborgene zu erfassen; am ehesten gelingt uns das, wie es scheint, bei höchst profanen Dingen: Ein Freund von Recht und Ordnung hat Parteispenden verheimlicht, ein Vorzeige-Unternehmer Steuern hinterzogen, und der Fernsehprediger, der gegen Schwule wettert, ist selber einer.
Das erwähnte Pflaster liegt allerdings nur in einem ganz alltäglichen Sinne tiefer, es hat mit Wesensfragen nichts zu tun und lädt daher bestenfalls Archäologen zur Untersuchung ein. Ich selbst empfand, als ich dieses Straßenstück beschaute, vor allem eines: Ich fühlte mich einen Augenblick lang zurückversetzt in die Ära der Gaslaternen und Pferdebahnen. Und wusste nun auch, dass Altes, von dem wir nichts ahnen, unter Neuerem unverändert fortbestehen kann.
Ein anderes Mal sah ich, wie an einem S-Bahnbogen an der Rathausstraße eine vorgeblendete Ziegelwand abgerissen wurde. Über der wohl schon seit Jahrzehnten zugemauerten Tür dahinter stand in dicken blauen Buchstaben auf weißem Grund HO Bockwurststube. Die Bockwurst, das war das kleine Glück, das Glück des kleinen Mannes; auch mir war sie inzwischen lieb und teuer. In den Hungerjahren nach dem Krieg hatte man leise und sehnsuchtsvoll gesungen: Ich hab so schrecklich Appetit auf Würstchen mit Salat. Doch schon ein paar Jahre darauf reichten lachende Verkäuferinnen in der Markthalle am Alexanderplatz zwei als Eisbären verkleideten Männern eine ganze Bockwurstschlange über die Theke. In einer Ausstellung alter Amateurfotos war das Bild damals zu sehen.
Mancherlei hatte ich auch zu Hause entdecken können, in meiner heruntergekommenen Altbauwohnung im Prenzlauer Berg. Bald nach meinem Einzug, Ende der 1970er also, fand ich im Fensterschrank der Küche unter Packpapier vergraben eine kaum vergilbte Bild-Zeitung vom 19. Juli 1954. Und als ich eines Tages im Flur die Zahlen vom sehr niedrig hängenden Gaszähler ablesen musste, um den herum jemand einen kleinen Verschlag gezimmert hatte, sah ich hinter dem Zähler einen Rest alter Tapete. Auf hellem Grund wirbelten kurze, leicht gekrümmte Striche umeinander, schwarz die einen, blau die anderen; manche der kleinen Flächen dazwischen waren gefüllt mit Weiß, Rosa oder Gelb. Picassomuster nannte man solche letzten Ausläufer des abstrakten Expressionismus seinerzeit in den 1950ern. Ich legte durchscheinendes Papier an die Wand, zeichnete das Muster nach und gab ihm dann an meinem großen Tisch die nötigen Farben. Es war ein stiller Vormittag, nur das immerwährende Geräusch der Stadt war zu hören; andere mussten hetzen und jagen und Schlange stehen, ich saß hier und genoss die Freuden meines Sonderdaseins.
Brachte so eine bunte Wandverkleidung Schwung ins Leben? Wahrscheinlich nicht. Es ist in dem Falle wohl nicht anders als bei den meisten solcher Dekorationen: Im Guten können sie nicht viel bewirken, im Bösen dafür umso mehr. Wie jene Tapete zum Beispiel, deren Reste ich unlängst in einem Container unten an der Schönhauser Allee fand. Sie klebte – einige Stücke in A4-Größe waren noch vorhanden – direkt auf dem Putz, gehörte also ebenso zur Erstausstattung wie einige in Dunkelgold gehaltene Stucktrümmer, die daneben lagen. Zu stammen schien mir das alles aus der Zeit zwischen 1880 und 1900.
Der Grundton dieser Tapete ist ein düsteres Violett. Üppige, langfingrige Blätter, die mal silbern, mal golden schimmern, streben, zu blütenartigen Gebilden verbunden, schräg nach oben. Nur locker zusammengefügt sind sie dabei, es bleiben zwischen ihnen kleine violette Leerstellen, die aussehen wie klagende Münder. Ihr Oooo gilt der Verderbtheit der Welt, doch es ist Heuchelei. Denn in der Stunde nach Mitternacht schlängeln sich diese Gebilde von den Wänden herab unter die Bettdecken und verschaffen den Schlafenden sonderbare Träume. Wer mag gewohnt haben in derart tapezierten Räumen? Der genialisch-dämonische Jüngling vielleicht, dessen tiefschwarze Augenringe auf eine geheime Neigung schließen lassen, die er allzu bald mit der Rückenmarkschwindsucht wird büßen müssen. Der Alchimist, der jahrzehntelang unter Einsatz seines ganzen Vermögens dem Stein der Weisen nachgejagt ist: Vermähle den roten und den silbernen Leu, treibe ihr Kind durch sieben grüne Bäder … Einmal zeigte sich in der Retorte ein goldener Anflug, doch ein Fehler nur, und alles zersprang. In seinem Wahn hält er sich nun an den Schimmer der Blütenblätter an den Wänden. Und dann der bankrotte Fabrikant mit seinen zwei Töchtern: Bis zur Decke ist anfangs der große Raum mit Möbeln vollgestellt; zuletzt bleiben ihnen noch ein Tisch, Stühle und einige Matratzen. Da verkauft er die beiden, die längst unter den Einfluss der schändlichen Tapete geraten sind, in einen südosteuropäischen Harem.
Man lebte in diesen Räumen wie unter Wasser, in ewiger Dämmerung. Zuletzt versteinerten die Türen; später stand bei schweren mitternächtlichen Gewittern manchmal ein grünes Gesicht mit roten Augen im Fenster. Bloß nicht hingucken! Arschbacken zusammenkneifen, weitergehen. In einem Haus hier in der Pasteurstraße will man dergleichen noch in den 1950er Jahren gesehen haben. In den Fünfzigern, als man begann, den Sozialismus aufzubauen, als die Mitschuringärten blühten und man in Hausfriedenskomitees zusammensaß? Ja, das war auf Seite Eins. In den Anzeigen hinten trug man noch immer Smoking, und es rauschten die großen Ballkleider.
Erst in den 1960ern war Schluss damit. Eines Tages erschienen dann auch in der Pasteurstraße zwei Mitarbeiterinnen der KWV, die weder Tod noch Teufel scheuten, und ließen die zum bewussten Fenster gehörige Tür aufbrechen. Der Raum dahinter war leer bis auf die Mumie eines Gummibaums, auf dem Boden lag knöcheltief Staub und in der Ofenröhre eine uralte, vergilbte Nummer der Londoner Illustrated Police News, die in krassen Bildern die Opfer des geheimnisvollen Westend-Mörders zeigte. Weiß der Teufel, wie sie dort hingekommen war. Als die zwei am nächsten Tag wieder vorbeischauten, war alles verschwunden. Man einigte sich darauf, dass es hier gar nichts gegeben habe, was der Rede wert sei, und hatte die Angelegenheit damit auf staatstypische Weise bewältigt.