19. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2016

Brutale Tradition – Genitalverstümmelung am Horn von Afrika

von Arndt Peltner, aus Somaliland und Oakland

Hargeisa, Somaliland – „Wenn man ein gesundes Kind bluten lässt, hat das nichts mit Kultur zu tun. Das ist schlichtweg ein Verbrechen gegen das Kind.“
Dieser Satz von Edna Adan verfolgt mich auf meiner Reise ans Horn von Afrika und bleibt mir auch nach meiner Rückkehr nach Oakland im Gedächtnis.
Alles fing im letzten Jahr an, als ich mit CARE International nach Somaliland und Puntland reiste, um mich vor Ort über die Flüchtlingskrise zu informieren. Von hier ziehen tagtäglich viele junge Männer und Frauen los, um die gefährliche Reise durch Äthiopien, den Sudan bis nach Libyen anzutreten, um dann in einer Nussschale über das Mittelmeer ins gelobte Europa zu gelangen. Viele sterben, werden entführt, gefoltert oder scheitern auf dem Weg. In den vielen Gesprächen in den Dörfern, Gemeinden und Flüchtlingslagern in Somaliland und Puntland wurde auch ein Thema immer wieder angesprochen, FGM, „Female Genital Mutilation“, weibliche Genitalvestümmelung. Junge und ältere Frauen sprachen ganz offen über diese jahrtausendalte Prozedur, die ihr Leben veränderte.
Zurück in Oakland und nach der Ausarbeitung der Flüchtlingsberichte begann ich mehr über FGM zu lesen, über die drei verschiedenenen Typen, die die Weltgesundheitsorganisation WHO beschreibt. Weltweit sind zwischen 220 – 250 Millionen Frauen betroffen, vor allem in den afrikanischen Ländern nördlich des Äquators. Aufgrund der Offenheit der Frauen, die ich zuvor getroffen hatte, dachte ich mir, ich könnte als ein männlicher Journalist mit westlichem und christlichem Hintergrund diese „Story“ aufgreifen. Die Stiftung Weltbevölkerung unterstützte das Vorhaben mit einem Reisestipendium und das CARE Büro vor Ort sicherte zu, mich bei meinen Recherchen zu unterstützen.
Aber mir wurde schnell klar, ohne die Hilfe und Unterstützung der CARE Mitarbeiterin Hodan Elmi hätte ich nichts erreicht. Sie war offen für meine Fragen, erklärte mir die Kultur, die Religion, die Tradition. In vielen der Gespräche mit betroffenen Frauen wurde ich im Laufe des Interviews nur noch als Mikrofonhalter wahrgenommen. Sie sprachen mit Hodan, schauten sie bei den Antworten an, ich stellte nur immer wieder ein paar Fragen. Die Sprache, der kulturelle, der geschichtliche und der religiöse Hintergrund zeigten mir als Mann, als westlichem Besucher und vor allem auch als Journalist meine Grenzen auf. Ich wurde der stille Beobachter und Begleiter einer Geschichte, die auch mich selbst an die Grenzen führte.

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Am Horn von Afrika ist eigentlich jede Frau „beschnitten“, wie es umgangssprachlich fälschlicherweise heißt. Und hier ist die schlimmste Version, der Typ III von FGM, die Infibulation oder auch pharaonische Beschneidung am meisten verbreitet. Typ III heißt, die Klitoris und die inneren und äußeren Schamlippen werden entfernt, danach alles zusammengenäht, damit nur eine klitzekleine Öffnung für den Urinfluss und die Menstruation bleibt. Die Schätzungen besagen, dass 92-98 Prozent der Frauen in dieser Region Afrikas im Alter zwischen fünf und zehn Jahren verstümmelt wurden.
Verstümmelt, das ist das Wort, was verwendet werden sollte. Und es wird klar warum, wenn man Edna Adan zuhört, der Gründerin und Leiterin des Edna Adan Hospitals in Hargeisa. Sie beschrieb mir einen Fall, als ein elfjähriges Mädchen mit Down Syndrom von den Eltern ins Krankenhaus gebracht wurde. Das Mädchen war am Morgen „beschnitten“ und nach mehr als 12 Stunden endlich in die Klinik gebracht worden. „Sie hatten einfach alles abgeschnitten. Ich habe viele Unfälle in meinem Leben gesehen, Verkehrsunfälle, im Krieg Verletzte…ich musste weinen. Denn dieses arme Kind…sie haben einfach alles über dem Knochen abgehackt. Wir konnten kein Stückchen Fleisch mehr finden, um es zu nähen. Die Harnröhre war getroffen, die Schamlippen ab. Das Kind muss sich gewehrt haben und die Großmutter dann einfach zugegriffen und alles mit einem Mal wie ein rohes Stück Fleisch abgetrennt haben.“
Als Edna Adan diesen Abend beschreibt, sieht man ihr noch den Schmerz und die Wut an. Sie sagt: „Es hat Stunden gedauert, bis wir die Blutungen stoppen konnten. Als ich aus dem OP kam, fragte ich die Mutter, wie sie das nur hatte machen können. Sie antwortete, sie wollte das Mädchen nur reinigen. Das machte mich so wütend. Ein Kind mit Down Syndrom ist so rein, wie es Gott geschaffen hat. Unschuldig und liebenswert. Was will man da reinigen?“
Edna Adan kämpft seit über 40 Jahren gegen die Genitalverstümmelung in ihrem Land. Im ersten Stock des Hospitals liegt das Büro der 79-Jährigen, gleich daneben ihr Schlafzimmer. An den Wänden Dutzende von Bildern aus dem Leben dieser sehr umtriebigen Frau. Adan war die Ehefrau des früheren somalischen (1967–1969) und späteren somaliländischen Präsidenten (1993–2002) Mohamed Haji Ibrahim Egal. Auf den vielen Fotos sieht man Edna Adan mit den US Präsidenten Lyndon B. Johnson, Bill Clinton, mit dem deutschen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, mit dem früheren Generalsekretär der UN Kofi Annan und vielen anderen bekannten Politikern. Die Bilder zeigen nicht die schwierigen Zeiten, die ihr Mann und sie unter dem Diktator Siad Barre erleben mussten. Haji Ibrahim Egal war mehrmals unter dem somalischen Machthaber ins Gefängnis gekommen.
Als sie meine Blicke auf die Fotos an der Wand bemerkt, sagt sie, sie habe das schöne Leben gelebt. Mit Präsidenten diniert, in den besten Hotels der Welt geschlafen, die Feste gefeiert, wie sie fielen. Sie war Gesundheits- und Außenministerin in der jungen Republik Somaliland, arbeitete für die Weltgesundheitsorganisation WHO, war begehrte Rednerin auf vielen Kongressen.
Doch nun hat sie hier ihre Lebensaufgabe gefunden. Dieses Krankenhaus hat sie selbst aufgebaut, 2002 wurde es eröffnet. Ihre eigene Pension war das Startkapital, dazu habe sie Spendengelder eingesammelt. Da kamen ihre guten Kontakte im In- und Ausland zum Einsatz. In den USA gibt es sogar eine „Edna Adan Hospital Foundation“, die aus der Ferne die Arbeit in Somaliland unterstützt. Und die hört nie auf.

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Gabilye ist eine Kleinstadt rund eine Autostunde westlich von Hargeisa. Über eine holprige Landstraße, vorbei an Kamel- und Ziegenherden geht es dorthin. In einem Kulturzentrum warten drei Frauen auf den westlichen Besucher. Ein abgedunkeltes Zimmer hält etwas die Mittagshitze ab. Kamila Noura ist eine von ihnen. Die 50-jährige Noura ist in Gabilye dafür bekannt, dass sie die Beschneidungen durchführt. Eine Ausbildung hat sie nicht, sie habe die Technik beim Zuschauen gelernt. Wie ich mir das vorstellen kann, will ich wissen, was braucht sie für diesen Eingriff? Nur eine Rasierklinge meint sie. Vieles hängt davon ab, was die Familie will, welche Art von Beschneidung sie verlange. Doch meist ist es die pharaonische Methode, dafür braucht sie dann auch noch Dornen, die sie selbst anschärft, um damit die Mädchen anschließend zu verschließen, die während der Prozedur von den Frauen der Familie festgehalten werden. Zwischen fünf und zwanzig Dollar erhält sie für ihre Arbeit. Es sei ihr Job, meint Kamila Noura, so, als ob sie einen Laden am Rand der Hauptstraße betreibe. „Mein Mann ist gestorben, das ist der einzige Verdienst, den ich habe, um meine Familie zu ernähren.“
Neben ihr sitzen Halima Hassan und Hawia Abdullah, beide weit über 50. Sie erzählen von damals, als sie „beschnitten“ wurden. Jede für sich kann sich noch gut an diesen Tag erinnern. Halima sagt, sie spüre noch heute die Dornen, die in ihre Innenschenkel stachen. Und dann sind da die Langzeitfolgen, immer wieder habe sie mit Infektionen zu kämpfen. Jeder Gang auf die Toilette sei schmerzhaft. „In meiner Hochzeitsnacht musste ich geöffnet werden. Dann wieder bei der Geburt meiner Kinder. Der Schmerz vergeht nie, deshalb setze ich mich heute dagegen ein.“ Die beiden Frauen nicken sich zu. Sie kämpfen in Gabilye gegen FGM, versuchen andere Mütter und Großmütter davon zu überzeugen, dass diese alte und brutale Praxis nichts mit dem Islam zu tun habe und von daher auch nicht ausgeführt werden müsse.
Das ist ihr Kampf, denn der Glaube, die Genitalverstümmelung sei im Koran verankert, ist ein Irrglaube. Gerade dagegen versuchen die Aktivistinnen in Somaliland anzugehen. Und sie haben mittlerweile wichtige Mitstreiter gefunden. Sheikh Ahmed Abdi Horre und Jama Abdullahi sind zwei von ihnen. Religiöse und traditionelle Führer in Somaliland. Die beiden treffe ich im Büro von Nagaad, einem Zusammenschluss zahlreicher Frauenrechtsgruppen. Der Sheikh erzählt, wie er lange Zeit selbst davon überzeugt war, dass im Koran die „Beschneidung von Mädchen“ vorgeschrieben sei. „Es wurde als etwas Gutes und Beschützendes für die Jungfräulichkeit eines Mädchens gesehen. Es sei nur zum Besten für das Mädchen und für die gesamte Gemeinschaft, das glaubten wir“, erklärt er. Die Frauen von Nagaad hätten ihn angesprochen, den Dialog mit ihm gesucht, ihm gezeigt, dass nichts davon in der Heiligen Schrift stehe. Nun sei er ein erklärter Gegner von FGM, spreche darüber in den Dörfern und in Versammlungen. Jama Abdullahi ergänzt: „Ich wusste schon immer, dass es falsch ist. Denn ich sah den Schmerz und das Leid der Mädchen, die das durchgemacht haben. Aber erst viel später, als ich eine Führungsrolle in unserer Gemeinde übernommen hatte, konnte ich das auch in Worten ausdrücken und man hörte mir zu.“
Das Frauen-Netzwerk Nagaad verfolgt eine Doppelstrategie. Auf der einen Seite ist die Überzeugungsarbeit der religiösen Führer im Land, die man für den Kampf gegen FGM gewinnen will, ja muss. Und man versucht durch gezielte Frauenhilfsprojekte das wichtige Anliegen im ganzen Land zu verbreiten – die Genitalbeschneidung ist falsch und ist nicht im Koran begründet. „Es ist ein Frauenrechtsproblem“, erklärt Amahan Abdisalaam, die Präsidentin von Nagaad. „Es ist eine folgenreiche Prozedur, die Frauen und Mädchen betrifft. Es wird in jungen Jahren durchgeführt, aber die Folgen bleiben ein Leben lang. In der Ehe, beim Kindergebären. Manchmal führt es direkt zum Tod, wenn die Mädchen verbluten. Es birgt riesige Gesundheitsgefahren für das ganze Leben einer Frau.“
Davon kann auch die 70-jährige Hauna Noura berichten. Sie war zehn Jahre alt, als es passierte. Ohne Betäubung hielten sie die Frauen in der Familie fest, ihre Großmutter schnitt dann mit einem Messer alles ab, verschloss die blutende Wunde anschließend mit Dornen. Hauna Nouras Beine wurden zusammen gebunden, damit sie nicht laufen, sich nicht bewegen konnte. Tagelang lag sie so da und wusste nur, dass es passieren musste, denn ansonsten würde sie später keinen Ehemann bekommen, das wurde ihr gesagt. „Ich bin heute eine alte Frau, aber die Schmerzen von damals habe ich noch immer. Durch die Infektionen habe ich Nierenprobleme bekommen, damit kämpfe ich jeden Tag. Was mir zugefügt wurde, werde ich nie vergessen.“ Doch Hauna Noura merkte erst spät, dass FGM falsch ist. Sie hat sechs Töchter, ihre älteste ließ sie „beschneiden“. „Als ich sah, mit welchen Schmerzen sie auf die Toilette ging, entschied ich mich, dass ich das nie wieder zulassen werde.“ Ihre fünf anderen Töchter blieben unberührt. Hauna Noura sagt, sie habe sich bei ihrer ältesten Tochter entschuldigt, der Teufel habe sie geritten, als sie den Eingriff zuließ.
Auch Hauna Noura setzt sich heute aktiv gegen FGM in Somaliland ein. Die Zahl der Gegnerinnen und auch Gegner dieser alten traditionellen Prozedur wächst stetig. In der Hauptstadt Hargeisa kann man Wandtafeln sehen, im Radio werden Spots gegen die Praxis ausgestrahlt. Doch auf dem Lande ist die nomadische Bevölkerung nur schwer zu erreichen. Deshalb sinkt die Zahl der betroffenen Frauen auch nur so langsam in Somaliland.
Eines dieser riesigen Billboards steht auf dem Dach des Edna Adan Hospitals. Hier werden auch Hebammen ausgebildet, ihre „Soldaten am Boden“ im Kampf gegen FGM, wie Edna Adan die jungen Frauen bezeichnet. Die Hebammen gehen nach ihrer Ausbildung in die Dörfer im ganzen Land, um dort zu helfen und auch über die Gefahren von FGM aufzuklären.
Die redegewandte Seniorin weiß, dass es nicht einfach mit einem Gesetz getan ist, dass ein Verbot der Genitalbeschneidung nicht über Nacht kommen wird. In Somaliland gibt es mittlerweile zwar eine offenere Diskussion über FGM und die Langzeitfolgen, zumindest in der Hauptstadt Hargeisa. Doch die Richtung, die dabei eingeschlagen wird ist nicht die, die sich die FGM-Gegnerinnen wünschen. Für sie gilt eine Null-Toleranz-Politik, jegliche Form der Genitalbeschneidung und -verstümmelung wird abgelehnt. Doch immer mehr setzt sich der Typ I, die Entfernung der Klitoris, durch. Für Edna Adan und auch die vielen anderen engagierten Frauen in Somaliland ist deshalb klar, dass ihr Kampf gegen FGM in der noch jungen Republik noch lange nicht vorbei ist. „Es gibt keinen Zauberstab“, sagt Edna Adan. „Es ist vielmehr wie beim Schnitzen, man hat dieses Stück Holz und schlägt Stück um Stück ab, bis man endlich die richtige Form gefunden hat.“ Noch kann Edna Adan also nicht in Rente gehen.