19. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2016

Von Lammkeule und Riesenpfirsich – Roald Dahl (schon jetzt) zum 100.

von Manfred Orlick

1977 erschien im Berliner Verlag Volk und Welt ein Paperback-Band mit einer Auswahl makabrer Kurzgeschichten, der schnell zum Bestseller (damals „Bückware“ genannt) wurde: „Lammkeule und andere Geschichten“ von Roald Dahl. Während die westdeutschen Leser den englischen Autor bereits durch die rororo-Bändchen „Küßchen, Küßchen!“ (1962) sowie „… und noch ein Küßchen“ (1963) kennengelernt hatten, war es für die DDR-Literaturfreunde die erste Möglichkeit, über den hintersinnigen schwarzen Humor dieser skurrilen Gruselgeschichten zu schmunzeln. Da wurde in der Titelgeschichte eine tiefgefrorene Lammkeule zur Rachewaffe einer Ehefrau, die erfahren hatte, dass ihr Mann sich scheiden lassen will. Den zum Tatort geeilten Polizisten serviert sie schließlich das Corpus Delicti als wohl mundenden Braten. In „Des Pfarrers Freude“ war es ein Antiquitätenhändler, der als Pfarrer verkleidet übers Land zog und den ahnungslosen Bauern ihre alten Möbel für einen Bruchteil von deren Wert abluchste. Bei einer kostbaren Chippendale-Kommode wurde ihm seine Raffgier allerdings zum Verhängnis.
Wer war nun dieser Roald Dahl, der bis heute Kultstatus genießt? Geboren wurde er als Sohn norwegischer Eltern, die ihn nach dem Polarforscher Roald Amundsen benannten, am 13. September 1916 in dem kleinen Ort Llandaff bei Cardiff in Wales. Sein Vater war Schiffsausrüster und starb bereits, als der Junge gerade vier Jahre alt war. Die Mutter blieb mit ihren Kindern weiterhin in Wales, nur die Sommerferien verbrachte die Familie bei Verwandten in Norwegen. Die Schulzeit, geprägt von mehreren Wechseln, war für Roald eher ein Graus. Einziger Lichtblick war eine benachbarte Schokoladenfabrik, die regelmäßig die Internatskinder zum Probieren von neuen Kreationen einlud. Diese süßen Erlebnisse verarbeitete Dahl später in „Charlie und die Schokoladenfabrik“ und prangerte dabei auch Fresssucht und Konsumterror an.
Nach der Schule schloss sich der 18-jährige einer dreiwöchigen Expedition der Public Schools Forschungsgesellschaft nach Neufundland an und begann anschließend eine kaufmännische Ausbildung bei der Shell Oil Company. Nach zweijähriger Lehrzeit verschlug es Dahl auf eine Shell-Niederlassung nach Ostafrika. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trat er der Royal Air Force bei und wurde zum Piloten ausgebildet. Nach einer schweren Kopfverletzung, die er sich bei einer Notlandung zugezogen hatte, wurde er 1942 als stellvertretender Luftwaffenattaché in die USA versetzt. Später war er auch Agent des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6. In diesen Jahren begann er mit dem Schreiben, zunächst mit Schilderungen seiner Kriegserlebnisse für eine Zeitung. Aber bereits 1943 erschien sein erstes Buch, das Kinderbuch „The Gremlins“.
Nach dem Krieg verfasste Dahl, der 1953 die Hollywood-Schauspielerin Patricia Neal geheiratet hatte, zahlreiche Kurzgeschichten, die sich durch ihren schwarzen Humor auszeichneten. In einer Mischung aus Grusel, Grauen und trockenem britischen Humor nahm er die alltäglichen Schwächen des englischen Kleinbürgers auf die Schippe, demaskierte dessen Kleinkariertheit, ausgeprägte Wettleidenschaft und andere weniger sympathische Züge. Neben einem vergnüglichen Schauer, den sie verursachten, hatten diese brillant geschriebenen Shortstorys auch meist ein überraschendes Ende. Diese Art zu schreiben, hatte in der englischsprachigen Literatur schon eine lange Tradition. Grundsteine dafür hatten Edgar Allan Poe und Ambrose Bierce gelegt.
Mit der Familiengründung wandte sich Dahl wieder verstärkt der Kinder- und Jugendliteratur zu. Als fünffacher Vater wusste er sehr genau, was kleine Leser fasziniert. In rascher Folge entstanden bekannte Titel wie „James und der Riesenpfirsich“, „Der fantastische Mr. Fox“, „Danny oder Die Fasanenjagd“, „Das riesengroße Krokodil“, „Sophiechen und der Riese“, „Hexen hexen“ oder „Matilda“.
Diese Kinderbücher zeichnen sich durch Fantasie, tolle Verrücktheiten, temporeiche Handlungen und starke Kindercharakter aus. Dahl schrieb seine Bücher stets aus der Sichtweise der Kinder, denn er konnte sich gut in deren Gedankenwelt hineinversetzen. Er arbeitete mit einer sehr bildreichen Sprache, in die er auch Reime und selbsterfundene Wörter einbaute. Kritiker warfen Dahl mitunter eine starke Überzeichnung und eine gewisse Grausamkeit in seinen Kinderbüchern vor. Da werden zum Beispiel Kinder von Hexen in sprechende Mäuse verwandelt oder Mini-Menschen müssen in der Schokoladenfabrik schuften. Doch diese Elemente kreierte er nicht um ihrer selbst willen, sie waren stets Teil seines schriftstellerischen Anliegens.
Viele dieser Bücher sind längst Klassiker geworden und haben es später erfolgreich auf die Leinwand geschafft. Dahl selbst trat ebenfalls als Drehbuchautor hervor, darunter für den fünften James-Bond-Film „Man lebt nur zweimal“ nach einer Romanvorlage von Ian Fleming. Beide Autoren kannten sich wahrscheinlich aus gemeinsamer Zeit beim MI6.
Roald Dahl starb am 23. November 1990 in Great Missenden (Grafschaft Buckinghamshire) an Leukämie. Grotesk wie seine Geschichten und Bücher ist auch die folgende Anekdote, die sich um seine Beisetzung rankt: Er wurde angeblich zusammen mit seinen Lieblingsdingen beerdigt – einer Motorsäge, seinen Bleistiften, Schokolade, seinem Billard-Queue und Rotwein.
Zweifellos gehört Dahl zu den beliebtesten Kinderbuchautoren, in England war er bis zu „Harry Potter“ sogar der erfolgreichste. Seine Bücher wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt und sollen sich weltweit mehr als 200 Millionen Mal verkauft haben. Pünktlich zu seinem 100. Geburtstag startete mit „The Big Friendly Giant“ eine Verfilmung von „Sophiechen und der Riese“, wobei Regisseur Steve Spielberg die Regie des bezaubernden Fantasyfilms übernahm. (Eine Besprechung kann im Beitrag „Film ab“ im Blättchen 16/2016 nachgelesen werden.)