von Klaus Hammer
Luise Straus-Ernst (1893–1944), Tochter eines Kölner jüdischen Fabrikanten, war Kunsthistorikerin, Journalistin, Künstlerin, Verfasserin von Kurzgeschichten, Reportagen, Romanen und Rundfunkautorin der ersten Stunde. Vor allem aber wurde sie bekannt als erste Frau des Malers Max Ernst, als „Muse“ der Dadaisten und Surrealisten. In ihrer Kölner Wohnung am Kaiser-Wilhelm-Ring verkehrten Paul Klee, André Breton, Paul Eluard, Tristan Tzara und viele andere.
Ihre Ehe mit dem unsteten Max Ernst dauerte nur wenige Jahre. Ihn zog es nach Paris, während sie mit Sohn Jimmy in Köln zurückblieb. Sie entwickelte sich inzwischen zu einer renommierten Journalistin der Weimarer Republik und empfing Brecht, Kurt Weill, Hanns Eisler und andere oppositionelle Literaten und Künstler. Doch 1933 musste auch sie als Jüdin nach Paris fliehen, versteckte sich während der deutschen Besetzung Frankreichs in einem Hotel in der Provence, wo sie ihre Autobiographie „Nomadengut“ schrieb.
Ein in letztem Moment eintreffendes Ausreisevisum für das „Ehepaar Ernst“ wurde unter merkwürdigen Umständen für ungültig erklärt. Während Max Ernst in Begleitung der amerikanischen Kunstsammlerin Peggy Guggenheim die Flucht nach Amerika gelang, blieb Luise Straus-Ernst in Frankreich zurück, wurde in einem der letzten Konvois deportiert und kam mit 51 Jahren in Auschwitz um.
Eva Weissweiler, Verfasserin von Frauenbiographien und mit der Erforschung deutsch-jüdischer Lebenswege beschäftigt, hat alle verfügbaren Quellen über das Leben dieser „wirklich bemerkenswerten Frau“ (Max Ernst) zusammengetragen und die dennoch offen gebliebenen Lücken und Fragen mit ihren Mutmaßungen und Erklärungen zu vervollständigen gesucht. So ist eine biographische Collage entstanden, die Authentisches mit Fiktivem vereinigt.
Hätten nicht ihr Sohn Jimmy (und dessen Familie) und Freunde ihre Texte gesammelt und weitergegeben, wäre die Schriftstellerin Luise Straus-Ernst – bis auf die wenigen Publikationen zu ihren Lebzeiten – so gut wie unbekannt geblieben. Es gibt einige Mitteilungen aus ihrem privaten Leben, Briefe, ihre erst 1999 veröffentlichte Autobiographie „Nomadengut“, die Erinnerungen „Nicht gerade ein Stillleben“ (1985) von Jimmy Ernst, der in den USA zunächst als surrealistischer Maler bekannt wurde und später im Stil des Abstrakten Expressionismus malte, nur wenige Porträtfotos von ihr – ein ernstes Gesicht mit großen dunklen Augen – aus den 1920er bis 1940er Jahren.
Wie also soll man vorgehen? Auf das übliche Verfahren, Zitate aus ihren Werken mit Fakten oder Phasen ihres Wissenschaftler-, Journalisten- und Schriftsteller-Lebens kurzzuschließen, wollte die Autorin Eva Weissweiler nicht verzichten. Aber sie hat sich auch für Synopsen von Werk und Leben, Leben und Werk entschieden. Ihre kaleidoskopartige Darstellung holt weit aus: Dort, wo es keine Aussagen der Porträtierten oder ihrer Angehörigen und Freunde gibt, nimmt sie Dokumente der Zeit, Zeitungsberichte, jüdische Autobiographien als Hilfsmittel, lässt Zeitzeugen zu Wort kommen, um das Zeitatmosphärische einzufangen. Oder sie fühlt sich selbst ein in diese Zeit, stellt Vermutungen und Erwägungen an, die allerdings nur Spekulationen im Spielraum des Wahrscheinlichen sein können.
Es ist also keine Biographie der Luise Straus-Ernst allein, es ist zugleich eine Zeitgeschichte zwischen den beiden Weltkriegen, eine Geschichte der französischen Exilzeit, eine Geschichte der künstlerischen Moderne, eine Geschichte ihrer Familie überhaupt. Die Chronik einer jüdischen Familie im Panorama jener Zeit, könnte man sagen. So wird die Biographie mehrstimmig, eine Biographie in vielstimmigen Sätzen und Zeugenschaften.
Als eine der ersten promovierten Kunsthistorikerinnen ihrer Generation förderte Luise Straus-Ernst nicht nur das Oeuvre ihres Mannes, sondern die Kölner Dada-Bewegung der 1920er Jahre. Als „Notre Dame de Dada“ war sie immer dabei. Ausführlich wird die Geschichte der Kölner Dada-Gruppe dargestellt. Während Max Ernst aber bald Anschluss an die internationale Dada-Bewegung fand, war dann Luise kaum noch an diesen Aktivitäten beteiligt. 1926 wurde die Ehe auch offiziell geschieden. Jetzt stürzte sich Luise kopfüber in eine ganze Reihe von Zufallsbeziehungen, die sie in „Nomadengut“ minutiös aufgezählt hat. Es fand ein Wechselspiel von Maskierung und Entblößung, Stilisierung und Selbstdarstellung statt. Luise Straus musste sich neu definieren. Welche Lebensalternative konnte sich jetzt für sie ergeben?
Nach allen möglichen Gelegenheitsarbeiten verstärkte sie ihre journalistische Tätigkeit; nun erschienen Texte von ihr im Kunstblatt, im Berliner Querschnitt und in anderen Zeitschriften. Sie wurde Kunstberichterstatterin für die in Berlin erscheinende Vossische Zeitung und ständige Korrespondentin für das Rheinland der Dresdner Neuesten Nachrichten. Sie schrieb weiter über das Kölner Kunstleben, Reportagen, wandte sich auch der Architektur, dem Theater und der Rolle der Frau in der Gesellschaft zu. Kurzgeschichten entstanden, der erste Roman „Männer im Hintergrund“, der das „Problem der selbständigen Frau“ behandelt. Diese Arbeiten stellen sozusagen die Simulation einer Bildproduktion dar, in der die Selbstpräsenz des Ich in der Darstellung einer anderen Figur, in anderen Figuren begründet ist. Die leiblichen Rollenwechsel oder Veränderungsformen (Verwandlungen) bestehen in der Überführung in eine jeweils neue, fremde Figur.
Unvorbereitet traf sie die „Machtergreifung“ Hitlers, doch nachdem die SS ihre Wohnung durchsucht hatte, wusste sie, dass sie als Jüdin und Intellektuelle für das neue Regime doppelt verdächtig war. Im Mai 1933 verließ sie Köln, um in Paris zu leben und neue Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Sie freundete sich mit dem Kunstjournalisten und Fotografen Fritz Neugass an. Neben Artikeln für die deutsche Exilpresse schrieb sie den Roman „Zauberkreis Paris“, der unter dem Namen Lou Ernst 1934/35 in Fortsetzungen im Pariser Tageblatt erschien. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Fritz Neugass in Antibes und anschließend in Les Milles interniert. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich wurde Luise Straus wie viele Emigrantinnen in das Sammellager Gurs nahe der spanischen Grenze gebracht. Beide kamen zwar wieder frei, wurden aber nach dem deutsch-französischen Waffenstillstand aus dem Département Alpes-Maritimes ausgewiesen. Jimmy Ernst hatte inzwischen für sie und seinen Vater, der ebenfalls in Marseille auf seine Ausreise wartete, ein Visum für Amerika beantragt. Das gemeinsame Visum wurde aber nicht anerkannt, und den Vorschlag von Max Ernst, erneut zu heiraten, lehnte Luise ab. Als im Juni 1941 ihr eigenes Ausreisevisum anstand, wurden die amerikanischen Einwanderungsgesetze geändert, und Luise musste zurückbleiben. 1942 kam sie bei dem provenzalischen Schriftsteller und Dichter Jean Giono unter, hier verfasste sie „Nomadengut“.
In der Nacht des 29. April.1944 wurde sie in einem Hotel in Manosque festgenommen, in das Internierungslager Drancy bei Paris gebracht und am 30. Juni mit einem der letzten Züge nach Auschwitz deportiert. Anfang Juni waren bereits die alliierten Truppen in der Normandie gelandet, und in der zweiten Augusthälfte 1944 fand die Befreiung von Paris statt.
Rätsel geben nach wie vor nicht nur die Beziehungen zwischen Luise und Max Ernst auf, obwohl sich die Autorin erfrischend kritisch mit dem persönlichen Leben des großen Malers auseinandersetzt. Warum hat Luise Straus Pläne zur Flucht aus Frankreich, zur Ausreise in die USA, nicht zielstrebig verfolgt? 1942 will Jimmy Ernst einen Brief von seiner Mutter erhalten haben: „Die Leute hier haben schreckliche Angst, aber du kennst mich ja. Ich habe ein Schiff namens ‚Optimist’, auf dem ich manchmal vielleicht ein bisschen nass geworden bin, aber ich weiß, es kann nicht sinken.“ War sie zu unbesorgt, vertraute sie zu sehr auf den „großmütigen“ Jean Giono? Oder könnte sie die Akzeptanz des sinnlosen, überflüssigen Opfertodes bereits literarisch eingeübt, sich so eine Tiefenperspektive geschaffen haben? Dem Sinnlosen, Sinnwidrigen, Sinnfeindlichen einen persönlichen Sinn verleihen, Selbstopferung bis zum Tod? Aus der Ohnmacht gegenüber der Gewalt könnte so vielleicht ein Gefühl der Macht und Stärke geworden sein, bei der das Erdulden und Erleiden als Lebenszweck schlechthin erscheint. Allerdings wäre auch das nur eine Mutmaßung, die wohl so auch nicht von Eva Weissweiler geteilt werden würde.
Eva Weissweiler: Notre Dame de Dada. Luise Straus-Ernst – das dramatische Leben der ersten Frau von Max Ernst. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 456 Seiten, 24,99 Euro.
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