von Uwe Feilbach
Im Jahre 1907 gründete ein Professor und Privatdozent an der Technischen Hochschule in Hannover einen „Anti-Lärm-Verein“. Hohn und Spott seiner Zeitgenossen handelte er sich dafür ein; galt doch der Lärm der Maschinen, Automobile und Eisenbahnen geradezu als Markenzeichen des beginnenden 20. Jahrhunderts, das mit Industrialisierung und technischem Fortschritt alle Probleme der Menschheit zu lösen versprach. Heute wissen wir, dass Lärm schwere Schädigungen der physischen und psychischen Gesundheit verursachen kann. Und so ist der Lärmschutz heute ein zentraler Bestandteil des Arbeits-und Umweltschutzes. Dies ist nur ein Beispiel für die weitsichtige Vorausschau des oft missverstandenen und zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Kulturphilosophen, Zivilisationskritikers, Schriftstellers und Publizisten Theodor Lessing.
Theodor Lessing wurde am 8. Februar 1872 in Hannover als Sohn einer assimilierten bürgerlichen jüdischen Familie geboren. Nach dem Abitur studierte er in Freiburg, Bonn und München zunächst Medizin und später Literatur, Philosophie und Psychologie. Er schloss sein Philosophiestudium mit einer Dissertation über den russischen Philosophen und Logiker Afrikan Spir ab. Was seine politische Haltung anbetrifft, so war Lessing ein entschiedener Gegner von Krieg, Imperialismus und Kolonialismus. Er war Sozialist und engagierte sich für Arbeiter- und Erwachsenenbildung. Zusammen mit seiner Frau Ada gründete er im Jahre 1918 die erste Volkshochschule in Hannover. Bei seinem Bemühen um die Erwachsenenbildung ging Lessing zuweilen ungewöhnliche Wege. So hielt er philosophische Vorträge vor Arbeitern in Bahnhofshallen. Er unterstützte in seiner publizistischen Arbeit sowie durch Vorträge unter anderem die Frauenrechtsbewegung und den Kampf für die Durchsetzung von Arbeiterrechten. Lessing war ein kritischer, streitbarer und Widerspruch herausfordernder Geist, der in vielem seiner Zeit voraus war und mit geradezu prophetischer Sehergabe Entwicklungen und Katastrophen voraussah, deren ganzes Ausmaß erst viel später zutage treten sollte.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, gehörte Lessing zu den ganz wenigen deutschen Intellektuellen, die sich nicht vom allgemeinen Taumel der Kriegsbegeisterung mitreißen ließen und nachdrücklich vor dem bevorstehenden Völkermorden warnten. Selbst Mitglied der SPD, war er zutiefst enttäuscht darüber, dass die SPD im Reichstag für die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt hatte. Um dem Fronteinsatz zu entgehen, meldete er sich freiwillig zum Dienst als Lazarettarzt. Während dieser Zeit entstanden seine beiden bedeutenden Werke „Europa und Asien“ und „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“. Beide Bücher wurden von der Militärzensur verboten und konnten deshalb erst nach Kriegsende erscheinen. Im erstgenannten Werk wies er auf die Gefahren hin, die ein unkontrolliertes Vorantreiben des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und ungezügeltes Profitstreben von Seiten Europas und Amerikas in weltweitem Maßstab durch die rücksichtslose Ausbeutung und „Vernutzung“ der Tier-und Pflanzenwelt sowie der Bodenschätze heraufbeschwören. In diesem Sinne kann man ihn mit Fug und Recht als einen Vordenker der Umweltschutzbewegung bezeichnen. In dem anderen Buch setzte sich Lessing mit einer von nationalistischen und ideologischen Vorurteilen behafteten Geschichtsschreibung auseinander, die vorgibt, wissenschaftlich und objektiv zu sein, in Wirklichkeit aber keine Wissenschaft, sondern eine „Willenschaft“ sei, da sie von Absichten und Interessen der jeweils Herrschenden bestimmt werde.
An der Technischen Hochschule zu Hannover, wo Lessing als Privatdozent für Philosophie lehrte, war er massiven Anfeindungen rechtsgerichteter Studenten ausgesetzt, die einen unverkennbar antisemitischen Anstrich trugen und ihn schließlich 1926 zwangen, die Hochschule zu verlassen. Im Jahre 1925 berichtete Lessing über den in Hannover geführten Prozess gegen den berüchtigten Serienmörder Fritz Haarmann, der im Rotlichtmilieu seiner Heimatstadt wohlbekannt und nebenbei auch als Spitzel für die Polizei tätig war. Lessing kritisierte das Vorgehen von Polizei und Justiz, die er als befangen ansah, und sprach sich dafür aus, den Prozess in einer anderen Stadt abzuhalten und kompetente psychologische Gutachter hinzuzuziehen. Daraufhin wurde er von der Berichterstattung über den Prozess ausgeschlossen. Den ganz besonderen Zorn national-konservativer Kreise zog er sich aber dadurch zu, dass er es gewagt hatte, die gesellschaftlichen Hintergründe dieses Verbrechens aufzudecken und die Morde Haarmanns zu dem massenhaften Morden in Beziehung zu setzten, das während des Ersten Weltkrieges zum Alltag gehörte.
Im selben Jahr warnte er vor der Wahl des damals in Hannover ansässigen Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten. Nur fünf Jahre nach Gründung der NSDAP sah Lessing bereits voraus, dass dieser „Zero“ einmal der Steigbügelhalter eines „Nero“ werden könnte, was durch die Machtübergabe an Hitler auch wirklich geschehen sollte. Da der greise Generalfeldmarschall als „Sieger von Tannenberg“ in völkischen und deutschnationalen Kreisen zu dieser Zeit überaus hohes Ansehen genoss, richtete sich deren geballter Zorn nun gegen Lessing. Studenten gründeten einen „Kampfbund gegen Lessing“ und riefen zum Boykott seiner Vorlesungen auf.
Mit Fragen des Antisemitismus sowie mit seiner eigenen Identität als Deutscher und Jude setzte sich Lessing in seinem Werk „Der jüdische Selbsthass“ (1930) auseinander. Nach der Rückkehr von einer Reise nach Palästina im Jahre 1930 war sich Lessing, der anfänglich mit dem Zionismus sympathisiert hatte, endgültig darüber klar geworden, dass er seine geistige Heimat in der deutschen Kultur und Sprache hatte und dass deshalb für ihn eine Übersiedlung nach Palästina nicht infrage käme. In seiner Schrift „Gnade dem Maultier“ beschrieb er im Jahre 1933 seine Position mit folgenden Worten: „Ich bin ein Deutscher, bin ein Jude, bin Kommunist, bin national, heimatbedingt und blutbedingt als Mensch, aber unabhängig und international als denkender Geist, bin seit Jahrhunderten in der engsten Heimat verwurzelt, in Niedersachsen, und stehe dennoch als Denker jenseits von Rasse und Landschaft.“
Nach dem Machtantritt Hitlers emigrierte Theodor Lessing am 1. März 1933 zusammen mit seiner Frau Ada in die Tschechoslowakei, wo er sich in Marienbad niederließ. Dort setzte er seine publizistische Tätigkeit in der deutschsprachigen tschechoslowakischen Presse fort. Schon seit 1923 hatte er im Prager Tageblatt Artikel, Essays, Glossen und Feuilletons veröffentlicht. Am 10. Mai 1933 wurden in Deutschland seine Bücher verbrannt. Am 30. August 1933 erschossen ihn zwei als Mörder gedungene sudetendeutsche Nationalsozialisten in seiner Wohnung. Goebbels hatte 80.000 Reichsmark auf seinen Kopf ausgesetzt. Mit Theodor Lessing starb einer der bedeutendsten und bekanntesten politischen Schriftsteller der Weimarer Republik.
In einem Beitrag für Zeit Online unter dem Titel „Im Eismeer der Geschichte“ würdigte der Schriftsteller Günter Kunert das Wirken Lessings mit folgenden Worten: „Sowenig Theodor Lessing mit seinem Denken in die Weimarer Republik gepaßt hat, sowenig paßte er in die deutschen Nachfolgestaaten. Er war, mit einem aktuellen Klischee gesagt: ein Querdenker. Und er war, was ihm Feindschaft bis weit übers Grab hinaus eintrug, ein prophetischer Aufklärer, ein unkorrumpierbarer Mahner, ein Satiriker von hohen Gnaden, eine Gestalt, die dank ihrer Vorahnungen und Weitsicht der eigenen Epoche unerhört weit voraus gewesen ist.“
Schlagwörter: Antisemitismus, Theodor Lessing, Uwe Feilbach, Weimarer Republik