von Erik Baron
Wer träumt ihn nicht, den Traum vom besseren Leben? Den Traum vom Paradies auf Erden? Und findet sich am Ende doch in der Hölle wieder? Der Übergang ist fließend. Die irdische Gegenwart dehnbare Pufferzone. Man kann mit einem Bein im Himmel, mit dem anderen in der Hölle stehen – und steckt trotzdem im Hier und Heute fest. Der Riss geht durch Körper und Geist eines jeden und spaltet zugleich die Gesellschaft als Ganzes. Wer gestern noch der Utopie einer menschlichen Gesellschaft anhing, ist heute an globalen Finanztransaktionen beteiligt – immer das bessere Leben im Sinn. Alles nur eine Frage der eigenen Definition.
„Entweder nimmst du die Welt, wie sie sich darbietet, oder als Folge von Ereignissen, die Ursachen haben“, hält die junge Studentin Nele in Ulrich Peltzers Roman „Teil der Lösung“ ihrem Freund, einem mittdreißiger Journalisten, den Spiegel vors Gesicht. Entweder ist man Teil des Problems oder Teil der Lösung. Geschehen in Zürich während einer Demonstration gegen die WTO-Tagung. Auch in Peltzers neuem Roman „Das bessere Leben“ taucht der Protagonist Jochen Brockmann, ein Mittfünfziger, in Zürich auf – allerdings mit einem Koffer Schwarzgeld, den er auf einem Schweizer Nummernkonto einzahlt. Mit zunehmendem Alter werden Peltzers Protagonisten immer mehr zum Teil des Problems, das sich mittlerweile zur gesamtgesellschaftlichen Krise, zur drohenden Katastrophe auswalzt. Eine Katastrophe jedoch, die man gelassen wie Huxleys schöne neue Welt hinzunehmen bereit ist.
In der Firma von Jochen Brockmann kriselt es. Ein millionenschweres Geschäft mit Indonesien droht zu platzen, da die finanzielle Absicherung fehlt. Wenn nicht schnell ein Überbrückungskredit an Land gezogen wird, droht eine heftige Vertragsstrafe. Da kommt der zufällige Kontakt mit dem mysteriösen Amerikaner namens Sylvester Lee Flemming gerade recht – ein Finanzakrobat, der mit seinem Hedgefonds global agiert und unkompliziert mit Krediten aushilft, wo es an finanziellen Mitteln fehlt. Fleming ist gleichsam das personifizierte Finanzkapital der Gegenwart – ein Scharlatan, der immer dann aushilft, wenn das Huxley’sche System ins Wanken zu geraten droht. Mit Fleming gestaltet Peltzer die tragende Figur dieses Systems, das seine Fäden zusammenhält, die systemische Ordnung aufrechterhält. Denn „ohne diese Ordnung das Chaos, kein gutes Leben […] was das wahre Gesetz ist […] des Himmels und der Erde“ – eine geradezu teuflische Figur, die ohne zu altern durch alle Zeiten gekommen zu sein scheint. Ob es in den dreißiger Jahren im anarchistischen Anatolien war oder 1968 bei den Studentenprotesten in den USA – Fleming war immer zugegen. Damals jedoch noch auf der anderen Seite der Barrikade. Insofern ist Fleming nicht nur das personifizierte Finanzkapital, sondern verkörpert auch die Schizophrenie vieler Zeitgenossen, die ihre Utopie auf der Müllhalde der Geschichte entsorgt und sich in finanzkapitalistischem Pragmatismus um 180 Grad gewendet haben und in der Gegenwart als ihre eigene Anti-Utopie von damals auferstanden sind.
Eine brillante Figur, die Peltzer in eben jener Schizophrenie einführt: In einem klimatisierten Hotelzimmer in Sao Paulo im Halbschlaf erwachend, erscheinen ihm immer wieder Erinnerungsbilder von den Anti-Vietnam-Kriegs-Protesten auf dem Campus in Kent (Ohio), wo die Nationalgarde 1970 gezielt auf Studenten schoss und Fleming seine Freundin im Kugelhagel verlor. Ein Alptraum, der als Erinnerung aus dem Halbschlaf entsteigt und sich mit Flemings Gegenwart vermischt. Dann aber – aus der Traum! Die Ideale von damals längst an den Nagel gehängt, hält Fleming heute das System, das er seinerzeit zu bekämpfen vorgab (?), mit windigen Finanztransaktionen zusammen. Die Ordnung, für die Fleming steht, hebelt die Dialektik von Zufall und Notwendigkeit aus. Für ihn folgt alles einem historischen Gesetz, „alles kam, wie es kommen mußte… Weshalb man keine Angst zu haben braucht, vor nichts, vor Träumen nicht, so wenig wie vor der Realität“. Selbst die zufälligen Begegnungen, die die Personen in Peltzers Roman zusammenführen und das Handlungskorsett darstellen, sind für Fleming Schicksalsfügungen – alles kommt, wie es kommen musste. Und er scheint die Fäden zu ziehen.
Dieser Fatalismus bricht sich jedoch wieder an der Figur des Fleming, der nur scheinbar diese Fäden zieht – weil wir es zulassen. In Wirklichkeit agiert natürlich Kommissar Zufall, der Jochen Brockmann nicht nur mit diesem teuflischen Fleming zusammenbringt, sondern auch mit seiner zukünftig Geliebten Angelika Volkhart, einer DDR-sozialisierten Frau, die in einer holländischen Reederei arbeitet, bei der ihr ihre Russisch-Kenntnisse bei Geschäften mit ehemaligen GUS-Staaten zu Vorteil gereichen. Dass sie perfekt russisch spricht, hat sie Elfriede Gerlach zu verdanken, ihrer Russisch-Lehrerin, die ihre Kindheit in Moskau verbracht hat und deren Eltern während der Moskauer Prozesse verschwunden wurden. Ein historischer Schwenk führt uns in jene Zeit, als sich die emigrierten deutschen Kommunisten in Moskau gegenseitig der feindlichen Spionage bezichtigt hatten – der Klassenkampf erforderte erhöhte Wachsamkeit und Opfer. Kritik und Selbstkritik gerieten hier zur existentiellen Bedrohung. Hier wurde die Grundlage dafür geschaffen, wie aus der einstigen Utopie eine Diktatur geformt wird, die sich am Ende selbst aushöhlte. Und mittlerweile zurück in tiefste kapitalistische Tiefen gestürzt ist – zurück in die heutige Gegenwart.
Alles hängt mit allem zusammen, und alles kommt, wie es kommen musste, scheint uns der teuflische Fleming einflüstern zu wollen, doch unterschlägt er uns nicht nur die Dialektik von Zufall und Notwendigkeit, sondern auch die von Subjekt und Objekt. Es sind immer die Menschen mit ihrem subjektiven Handeln, die die objektiven Gesetze der Geschichte am Laufen halten! Erst die Zufälle des Lebens bilden den Nährboden für die Notwendigkeit der Geschichte – was Fleming natürlich bestreiten würde und in fatalistische Weise Peter (Peps) Möhle, einem Alt-Revoluzzer und ehemaligen Mitstreiter von Jochen Brockmann, in den Mund zu legen scheint: „Die Geschichte kennt nur eine Richtung, kaum ist etwas schwerer hinzunehmen.“ Gleichwohl besinnt sich Peps jener Dialektik und unterstützt eine Gruppe junger Herausgeber avantgardistischer und revolutionärer Filme (wie zum Beispiel Dsiga Wertows „Drei Lieder über Lenin“ aus dem Jahr 1934 – „Wer sich danach nicht zum Kommunismus bekehrt, ist entweder tot oder hat einen Stein in der Brust“): „Das war er sich und ihnen schuldig, dem Traum von einer Sache.“ Utopische Ideale auf die Müllhalde der Geschichte zu werfen, ist keineswegs eine historische Notwendigkeit, sondern immer abhängig vom (subjektiven) Charakter des einzelnen. Aber dieser wird auch immer von den äußeren Bedingungen geformt, die die Flemings dieser Welt bestimmen, die wiederum zu einem Großteil wir selbst sind.
Mittels eingefügten Gedanken-Intermezzo konfrontiert uns Peltzer mit jenen utopischen Idealen, die nur noch als schöne Erinnerung existieren – „Atempause, was geht dir gerade durch den Kopf?“, fragt er in die Handlung hinein, spricht sowohl alle seine Protagonisten, aber auch (und vor allem) seine Leser an. Oder ist es der monologische Dialog eines Schizophrenen (also Flemings?), der sich selbst mit den ideologischen Kämpfen und Lehren konfrontiert, für die er in seinem früheren Leben gekämpft hat? Ein kurzer historischer Ausflug in die linksradikale Anarchoszene der siebziger Jahre, als für die Abschaffung des Staates als ideellen Gesamtkapitalisten auf die Straße gegangen wurde. Und heute? „Sieg der Konterrevolution auf der ganzen Linie“ Was also soll das romantische Festhalten an längst auf den Müllhaufen der Geschichte gelandeten Glaubensgrundsätzen? „[…] was ist das, Verbohrtheit? Unvermögen, das eigene Schicksal zu bejahen? Dabei wäre das, die Bejahung, doch der erste Schritt aus der Gefangenschaft einer Realität, deren Schöpfer man nicht kennt, sei es ein böser, sei es ein guter Geist. Anstatt zu jammern von morgens bis abends, dass die Dinge nicht so laufen, nie so laufen, wie man es sich ausgemalt hat“ – fragt (mit einem schelmischen Lächeln?) … ja, wer? Peltzer? Fleming, der Teufel? Das frühere revolutionäre Ich? Oder alle gemeinsam? Und wer vermag zu antworten?
In einem atemberaubenden Prosa-Abschnitt, einem Erinnerungsrausch, den Peltzer, beginnend bei Jochen Brockmann, personen- und zeitübergreifend wie eine Achterbahnfahrt übergangslos durch die Köpfe seiner Protagonisten rasen lässt, versucht er die Parallelität von Bewusstseinsströmen und Ereignissen linear zu strukturieren. Ein gewagtes Experiment, verwirrend beim einmaligen Lesen, aber die Kernstruktur seines Romans treffend: die scheinbare Schicksalsfügung historisch notwendig agierender Gesetze basiert stets auf subjektiven Zufälligkeiten parallel stattfindender Ereignisse und Gedanken, die sich im irdischen Universum kreuzen. Alles kam, wie es kommen musste? Mitnichten! Gleichwohl hängt alles mit allem zusammen! Und darin besteht das Fünkchen Hoffnung in Peltzers Roman, im wabernden Brei des historischen Fatalismus, den sein Held Fleming verbreitet, jener teuflische Zeitgenosse, der auch in jedem von uns steckt.
Im Zusammenhang mit seiner Monumentalinszenierung von „Hamlet/Maschine“ im Jahr 1990 formulierte Heiner Müller die für ihn entscheidende Frage: Wer ist Fortinbras? Stalin oder die Deutsche Bank? Die entscheidende Frage in Peltzers Roman bleibt: Wer oder was ist Fleming? Ist es tatsächlich der Teufel in Gestalt eines Hedgefonds- Manager? Oder eben auch der personifizierte Drang in uns, auf Teufel, komm raus (!) ein besseres Leben führen zu wollen und alle bisherigen Ideale, für die wir eingestanden (oder gar gekämpft) haben, über Bord zu werfen? Und unser Arrangement mit dem System, das wir früher verteufelt (!) haben, mit dem vermeintlichen Naturgesetz schönzureden: „alles kam, wie es kommen musste“? Diese Fleming-Worte führen direkt in Huxleys schöne neue Welt, „upgegratet“ auf das 21. Jahrhundert: Wenn wir sowieso nichts ändern können, da alles nach diesem Gesetz folgt, freunden wir uns eben mit dem System an! Das bessere Leben in der schönen neuen Welt ist uns sicher!
Ulrich Peltzer: Das bessere Leben. Roman, S. Fischer, Frankfurt am Main 2015, 448 Seiten, 22,99 Euro.
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