von Alfred Askanius
Dem täglichen Bilder-Tsunami kann sich niemand entziehen. Er prägt uns und unser Verhalten stärker, als wir es uns selbst zumeist eingestehen wollen. Der im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit verpixelte Horror sorgt für eine weithin verbreitete Oberflächlichkeit der Gefühle und ein ebenso oberflächlich dahinplätscherndes Denken, dem wir uns tagtäglich erwehren müssten – aber daran öfter scheitern, als es uns im Nachhinein lieb ist. Bleiben wir mit den Füßen auf dem Teppich: Gleichgültigkeit und ritualisierte Empathie sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Mitunter aber gelingt es erstaunlicherweise einem einzelnen Bild, diese allgegenwärtigen Verkrustungen zu durchstoßen: Das Foto des an den Strand gespülten dreijährigen syrischen Flüchtlingskindes Aylan Kurdi löste im September 2015 europaweites Entsetzen aus.
Allerdings auch das nur für eine relativ kurze Zeit: Binnen weniger Tage setzte in unserer empfindsamen Medienwelt die Debatte darüber ein, ob man denn so etwas dürfe… Nein, nicht ob man Kinder ersäufen darf: Die Debatte kreiste darum, ob man den Leichnam des Kindes erstens abbilden und zweitens dieses Abbild dann auch noch verbreiten dürfe. Die europäische Erregungskurve ging steil nach oben. Etwas abgefedert wurde der verlogene Diskurs nur, weil sich rasch herausstellte, dass der Fotograf kein abgefeimter Kriegsberichter, sondern eine sich zufällig in der Nähe befindliche türkische Fotografin, eine Frau also, war. Und berufstätige türkische Frauen haben es unter Erdogan sowieso schon schwer genug…
Es ist das archaische Ritual unserer Altvorderen: Nicht die Nachricht selbst, der Überbringer wird abgestraft. In der Konsequenz wurde schon immer gern das Bild, nicht der abgebildete Zustand, verboten. Systemübergreifend. Allerdings lässt sich nichts leichter verfälschen als die Wirklichkeit in Form ihres fotografischen Abbilds. „Eine Photographie der ‚Krupp-Werke‘ oder der ‚AEG‘ ergibt beinahe nichts über diese Institute“, merkte Bertolt Brecht im Jahre 1931 an. Zitiert wird Brecht von Reiner Diederich in seinem Aufsatz „Die Fotomontage als dialektisches Bild“ in einem bemerkenswerten Band des Verlages M des Berliner Stadtmuseums über John Heartfield und Ernst Volland, mit dem Autoren und Herausgeber die „Annäherung an zwei widerständige Künstler“ (so der Untertitel) suchen. Die Verbindung beider in einer Publikation hat etwas Zwingendes. Beide Künstler gehören unterschiedlichen Generationen an: Der 1968 verstorbene John Heartfield war Jahrgang 1891, Ernst Volland wurde 1946 geboren und begann erst sieben Jahre nach Heartfields Tod in West-Berlin freiberuflich zu arbeiten. Damit verfügen sie über sehr unterschiedliche Erfahrungshorizonte – Krieg und Exil blieben Volland erspart, polizeiliche Gewalt und juristische Verfolgung seiner künstlerischen Arbeit hat er gleichwohl erdulden müssen. Dennoch kommen beide häufig zu verblüffend ähnlichen Bildlösungen.
Der Band präsentiert beispielsweise Vollands Plakat und Postkarte „Geschmack“ aus dem Jahre 1981. Dargestellt ist US-Präsident Ronald Reagan im Habitus des Marlboro-Cowboys. Hinter ihm sitzt Adolf Hitler auf dem Pferd. Die Reiter ziehen die Flammenwolke des Krieges hinter sich her. Im Juli 1933 „aktualisierte“ John Heartfield Franz von Stucks Gemälde „Der Krieg“ (1984; München, Neue Pinakothek). Auch er setzte Adolf Hitler hinter dem Stuckschen Krieger aufs Pferd. Aus der bedrohlichen Tornado-Wolke des Gemäldehintergrunds zucken bei Heartfield zwei Blitze, die sich zum Hakenkreuz begegnen. Beide Bildfindungen sind sehr didaktisch konstruiert. Besonders dialektisch geht es nicht daher. Diese Fotomontagen schleudern dem Betrachter ihre Wahrheiten unmittelbar ins Gesicht. Das gefällt nicht jedem. So direkte Ansprache trifft (fast) immer. Aber die berühmten getroffenen Hunde beißen heute in der Regel nicht mehr ganz so direkt wie zu Heartfields Zeiten: Ernst Volland musste sich gelegentlich gegen Versuche, ihn gerichtlich zu belangen, zur Wehr setzen. Interessant waren die Begründungen. Natürlich benutzte er in seinen Arbeiten ein in Deutschland verbotenes Symbol, das Hakenkreuz. Wie auch sonst soll man Faschisten kennzeichnen, wenn nicht durch die Benutzung ihrer Symbolik? Volland war nicht der erste und er wird auch nicht der letzte antifaschistische Bildkünstler sein, dem man de facto faschistisches Gedankengut unterstellte, um ihn mundtot zu machen.
Ernst Volland selbst hat John Heartfield einen aufschlussreichen Aufsatz im vorliegenden Band gewidmet: „Benütze Foto als Waffe!“ – Damit ist etwas anderes gemeint als das zumeist nur plakativ im Sinne des Agit-Prop missverstandene „Kunst ist Waffe!“ Friedrich Wolfs. Fotos dazu „benützen“ setzt grundsolides Können voraus. Bloßes Geschnippel und Geklebe reichen eben nicht aus. Und Heartfield spielte meisterhaft auf der Klaviatur der bildkünstlerischen Satire. Volland vergleicht ihn nicht zu Unrecht mit Francisco Goya und Honoré Daumier – auch wenn die sich anderer Techniken bedienten. Diese drei Satiriker durften tatsächlich alles, um Tucholsky zu zitieren. Aber nur, weil sie es konnten. Viele ihrer Arbeiten haben sich in unser kollektives Gedächtnis förmlich eingebrannt. Heartfields „Millionen stehen hinter mir“ dürfte ebenso zum festen Bildgedächtnis mindestens Europas gehören wie Goyas „Schlaf der Vernunft“. Sie sind kanonisiert.
Kanonisierung birgt aber immer ein schier unlösbares Problem. Die Interpretation ist scheinbar festgezurrt. Die ästhetische Aneignung hat im Rahmen der Regeln des Kanons zu erfolgen. Und wehe denen, die dagegen verstoßen! Nur: Kunst, auch die Fotografie, selbst die dokumentarische Fotografie, stellt Fragen. Sie liefert auch Antworten, bietet Informationen. Aber in erster Linie stellt sie dem Rezipienten Fragen. Der muss die sich selbst beantworten. Im Zwiegespräch mit einem Kunstwerk ist man immer ganz allein. Das nennt man „Aneignung“. Sie ist das Einfache, das so schwer zu machen ist. Wer sich lediglich im Regelwerk der Kanonisierer bewegt, dem genügt ein „Kunst-Baedecker“ und ihn erfreut der Wiedererkennungseffekt. Verstanden hat er in der Regel nichts bis wenig.
Ernst Volland nahm den Begriff der „eingebrannten Bilder“ in einer nach 1990 entstandenen Folge wörtlich. Er vergrößerte Ikonen der dokumentarischen Fotografie des 20. Jahrhunderts – von der Erschießung einer jüdischen Mutter 1942 in der Ukraine über den toten Che 1967 bis hin zu den brennenden Twin Towers am 11. September 2001 – auf eine Bildfläche von teilweise über einem Quadratmeter. Das sofortige Wiedererkennen erschwerte er durch eine sehr gründliche Verfremdung des Motives durch Unschärfe. Von Ferne betrachtet sehen diese Fotos tatsächlich so aus, als seien sie auf eine Metallplatte eingebrannt. Der Betrachter wird gezwungen, genauer hinzusehen. Er muss sein bisheriges Rezeptionsverhalten auf den Prüfstand stellen und das Foto schärfer hinterfragen, als er es ansonsten praktiziert. Sinn macht das Ganze allerdings nur bei Fotografien, die in unserem Gedächtnis auf die eine oder andere Weise bereits „eingebrannt“, also „abgespeichert“ und mithin „abrufbar“ sind. Hier stößt das Vollandsche Verfahren an objektive Grenze im Subjekt des Rezipienten. Nicht nur Kunst kommt von „Können“, wie ein banaler Spruch so schön daher plappert. Man muss auch Betrachten können.
Der übrigens exzellent gedruckte Band des Berliner Stadtmuseums „streitbar | strident“ über zwei widerständige Künstler ist somit auf eigene Art widerständig. Er fordert auf zum Widerstand gegen die überbordende Verflachung unseres Sehens. Es ist eine Lust, ihm zu folgen. Und es ist ein sehr politisches Buch, das ausgesprochen wohl tut.
streitbar | strident. John Heartfield. Ernst Volland. Annäherung an zwei widerständige Künstler, Verlag M im Stadtmuseum Berlin, Berlin 2016, 160 Seiten, 27,94 Euro.
Schlagwörter: Alfred Askanius, Ernst Volland, Fotografie, Fotomontage, John Heartfield, Stadtmuseum Berlin