von Bernhard Romeike
Die Wochenzeitung Die Zeit betreibt auch ein Studentenmagazin, das Campus heißt. Dort war im Juni ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel zu lesen. Dieser leitet das Demokratie-Ressort des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung und gilt als der SPD nahe stehend. Die Präsentation des Interviews betont, dass junge Linke den Bezug zur Unterschicht verloren hätten, Parteien für altmodisch hielten und sich lieber kurzfristigen Engagements widmeten, etwa bei Amnesty International, Attac oder im Netz. Gleichwohl würden sich viele Studenten in Deutschland „als politisch links“ betrachten.
Merkel bestätigt dies. Während die Linke früher Utopien träumte, den Staat bekämpfte und darüber diskutierte, wie gesellschaftlicher Wohlstand gerechter verteilt werden könne, hätten sich junge Leute, die heute links sein wollten, von diesen Feldern weitgehend verabschiedet. Stattdessen dominierten kulturelle und identitätspolitische Themen, über die sich „junges Linkssein“ heute definierten. Als zentrales progressives Anliegen gelte die „unbedingte Gleichstellung von Minderheiten“, seien es ethnische, religiöse oder sexuelle. Dabei werde Religion unter „Immunitätsschutz“ gestellt, während die aufklärerischen oder marxistischen Traditionen der Religionskritik völlig verdrängt oder ignoriert würden.
Das hat eine Konsequenz, die Merkel für hochproblematisch hält: Kritik am Islam werde unvermittelt als „rechts“ oder „Phobie“ verdammt. Der Wortwahl des Interviewers, ob es sich um ein „selbst auferlegtes Sprachverbot in der Linken“ handele, mag Merkel allerdings nicht folgen. Stattdessen spricht er von „Zonen diskursiver Immunität“ – was eine sehr nette Umschreibung der herrschenden politischen Korrektheit ist. Diese Zonen dürfe man „erst betreten, wenn man vorher drei Minuten ein Bekenntnis abgelegt hat, dass man kein Rechter, nicht xenophob ist und auch für offene Grenzen“. Ein Diskussionsverbot aber könne grundsätzlich nicht links sein.
Dass die junge Linke an Verteilungsfragen nicht interessiert ist und sich stattdessen für kulturelle und identitätspolitische Themen engagiert, ist die wohl wichtigste Veränderung. Sie ist zugleich mit einer kosmopolitischen Orientierung verbunden: Gerechtigkeitsfragen werden nicht im nationalen Kontext, sondern unter einer globalen Perspektive verhandelt, während der Nationalstaat als überholt und altmodisch gilt. Auf diesem Wege nahm die Entfremdung der politischen Linken von den „einfachen Leuten“ ihren Lauf, denen sie mit einer Mischung von Desinteresse und Herablassung begegnet. Diese Linke sei „tief im kulturellen Kosmos der Mittelschichten verankert“.
Auf der Webseite der Zeit gab es eine ausführliche Diskussion zu dem Merkel-Interview, mit über 330 nachlesbaren Kommentaren, die zum Teil recht aufschlussreich waren. So betont ein Kommentator mit der Selbstbezeichnung Quevedo, man solle berücksichtigen, dass mit dem Verschwinden des Proletariats als soziale Gruppe im ursprünglichen Sinne auch der Begriff des Proletariats untergegangen und nur mehr von historischem Wert sei. Heute sei eher von „Prekariat“ die Rede und gemeint seien „Langzeitarbeitslose, Aufstocker, Leute, die sich mit einem oder mehreren Jobs gerade so über Wasser halten können, Leute in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen“. Die „Linke“ hätte für sie wenig schmeichelhafte Bezeichnungen wie „Globalisierungsverlierer“ und „sozial Abgehängte“ – Worte, in denen viel Arroganz und Abwertung mitschwinge.
Die klassische Linke sei „leider praktisch tot“, stellt Kritischer Freigeist fest: „Wer sich heute als Links bezeichnet, der hat mit den Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten von früher so gut wie nichts gemeinsam. Tatsächlich ist heute keine politische Strömung von der Lebensrealität und den einfachen Bürgern weiter entfernt, als die moderne Linke. Zugegeben, praxistaugliche Lösungen waren bei den klassischen Linken auch Mangelware, aber immerhin war noch der wirkliche Wunsch existent, das Leben der einfachen Menschen zu verbessern und Gerechtigkeit herzustellen. Auch die Aufklärung und der Atheismus sind quasi völlig verschwunden, zugunsten einer im Korsett der Toleranz daherkommenden Verklärung des Islam. […] Heute driften die Linken zunehmend in eine neue Form des Totalitären ab, mit klaren Feindbildern, Hexenjagden und dem Fehlen jeder Diskursbereitschaft. Dies ist weit gefährlicher als jede Utopie der früheren Linken, nicht zuletzt auch, weil heute ein mächtiges konservatives Korrektiv fehlt.“
„Linke engagieren sich für die Schwachen“, meint Alraun mit ironischem Unterton, die jungen Linken hätten dabei „aber eine ganz klare Opferhierarchie: Erst kommen Tiere, dann Einwanderer, dann LGBT, dann Frauen, dann Behinderte und dann kommt die Unterschicht. Die Unterschicht spürt das und reagiert an der Wahlurne entsprechend.“
Die Globalisierung habe Gewinner und Verlierer geschaffen, hatte Merkel in seinem Interview festgestellt, „und die Linke in ganz Europa vermag es kaum mehr, die Globalisierungsverlierer an sich zu binden“. Das habe Folgen. Der „Verlust der Kommunikation zwischen den Klassen […] ist massiv und ein Problem für die soziale Gerechtigkeit.“
Auf der Webseite Makroskop – die unter anderem von Heiner Flassbeck getragen wird, dem bekannten Wirtschaftswissenschaftler und früheren Staatssekretär unter Finanzminister Oskar Lafontaine – kommentierte Sebastian Müller den Befund Merkels: Wir seien Zeuge eines Zeitgeistes, bei dem das Label den Inhalt ersetze, „Links“ sei wie „Bio“ oder „Grün“; was drauf stehe, müsse nicht drin sein. Der Transformationsprozess, den Merkel in der Linken wahrnehme, habe nur noch wenig mit „links“ zu tun. „Er ist schlicht Ausdruck eines (neo)liberalen Mainstreams“, so Müller. „Er ist das Ergebnis einer neoliberalen Durchdringung kultureller, individueller und gesellschaftlicher Lebenswelten“, die auch die Linke erfasst habe. Die junge Linke „hat den Blick für das große Ganze verloren“, der die intellektuelle Linke seit Marx immer ausgezeichnet habe. Mit dem Vordringen der Individualisierung sei das solidarische gemeinschaftliche Bewusstsein verschwunden. Es ginge nicht mehr um „eine politische Gestaltung der Welt“, sondern um „einen politisch korrekten Lifestyle und moralische Mikroentscheidungen“. Die Ängste der Globalisierungsverlierer, nicht zuletzt angesichts der Flüchtlingsströme, würden als Nazitum stigmatisiert. Müllers Fazit: „Die Generation der ‚Neuen Linken‘ samt ihrer ‚Privatisierung‘ der Gerechtigkeitsfrage, ihrer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber sozialer Desintegration, ihrer Ablehnung von Grenzen und ihrem Misstrauen gegenüber dem Staat als politischem Bezugsrahmen ist nicht nur kompatibel mit dem kosmopolitischen, transnationalen Neoliberalismus. Sie ist ein Teil von ihm.“
Hier spätestens ist klar, dass es nicht nur um die Klientel der Sozialdemokraten geht, wie Merkels biographischer Hintergrund nahe legt. Das bedeutet zugleich, dass diese
neoliberalen „jungen Linken“ in der Partei Die Linke mehr mit den vergleichbaren
Alterskohorten der SPD, der Grünen und der FDP gemein haben, als mit den älteren
Linken, deren Bezüge Verteilungsgerechtigkeit, Friedenspolitik und
die Veränderung der Welt sind. Das wiederum kann durchaus sehr praktische Folgen zeitigen, etwa wenn es um die Frage geht, unter welchen Voraussetzungen all diese neuen „Linken“ unterschiedlicher Couleur eigentlich miteinander regieren wollen würden.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, Linke, Linksseins, Neoliberalismus, Soziologie, SPD, Wolfgang Merkel