von Werner Sohn
Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung, behauptet ein Sprichwort. Man kann es als pragmatisches Echo jenes altgriechischen Mottos verstehen, das seit Jahrtausenden als Aufforderung an den nach Weisheit und Glück Strebenden durch die Philosophiegeschichte, mehr noch, durch die Weltgeschichte geistert: „gnothi seauton“ (Erkenne dich selbst!) Am Menschen gab es schon immer etwas zu verbessern, er ist schließlich das „Mängelwesen“ (Arnold Gehlen) par excellence. Das kluge Wort scheint in der altgriechischen wie in der deutschen Variante aktuell geblieben.
Unserem Sprichwort ist jedoch weniger an philosophischer Selbstreflexion gelegen als an der glaubhaften Bekundung, ein Fehlverhalten eingesehen zu haben und künftig vermeiden zu wollen. In allen Erziehungseinrichtungen, Arbeitsverhältnissen bis hin zur Politik und auch vor Gericht sind solche „Selbsterkenntnisse“ von Bedeutung. Wenn es ein Angeklagter nicht vorzieht zu schweigen – was ebenfalls eine philosophische Tugend ist –, sollte er nicht säumen, Einsichts- und Empathiefähigkeit, Reue, eben Besserung durch Selbsterkenntnis, mithilfe einer bewährten Rhetorik darzulegen. Ob sich der Edukand, Proband, Politiker, Beschuldigte oder sonst wie gefehlt Habende mit solchem Bekenntnis wirklich auf eine Erkenntnis über sich selbst stützt oder nur Beschlagenheit in den Formen kommunikativen Raffinements beweist – wer kann das wissen?
Altgriechische Intellektuelle, vielleicht sogar die Lehrer in den Gymnasien, müssen die Formel oft im Munde geführt haben, zumeist wohl mit wissend hochgezogener Augenbraue, denn einer der sieben Weisen soll sie am Apollon-Tempel zu Delphi hinterlassen haben. Wer den sokratischen Witz allzu ernst nimmt, wird meinen, auch der große Sokrates habe den arroganten Athenern das „Erkenne dich selbst … zugerufen“, um ihnen zur „Einsicht in die sittliche Armut und Blindheit“ zu verhelfen (Hans Joachim Störig). Freilich wirkt es doch sehr ironisch, wenn Platon diesen Sokrates im „Phaidros“ sagen lässt: „Ich kann noch immer nicht nach dem delphischen Spruch mich selbst erkennen.“ In einem anderen Dialog, dem „Protagoras“, lesen wir Spott aus der Übersetzung Schleiermachers über die „lakonische Kurzrednerei“ nach Art der bekannten Spruchweisheiten. Dies passt zum berühmten Bekenntnis des Sokrates, dass er eigentlich nur wisse, nichts zu wissen. Hieraus folgt ganz konsequent auch die Fehlanzeige eines Wissens über sich selbst. Pragmatiker mögen erwidern, die angeratene Selbsterkenntnis sei zwar im Ganzen kein erreichbares Ziel, aber doch in vielen wichtigen Details, durch die wir uns analysieren, einschätzen und Schritt für Schritt gar auf die Schliche kommen können. Das Streben nach Selbsterkenntnis, der Wille und ein redliches Bemühen seien maßgeblich im Sinne der lakonischen Weisheit, die ein Ideal darstelle oder auch ein nützliches begriffliches Hilfsmittel im Sinne von Hans Vaihingers „Philosophie des Als Ob“. Wenn dies bedeutet, eigenständig über sich nachzudenken und folglich Selbstdenker zu werden, wird man die Aufforderung nicht gering schätzen. Selbsterkenntnis kommt jedoch so nicht zustande. Obschon im Allgemeinen als Mensch zwar einfach gestrickt, bin ich mir selbst zu kompliziert. Meine geistigen Kapazitäten sind begrenzt. Dabei geht es nicht um mehr oder weniger enge Grenzen, sondern um Grenzen überhaupt. Wir sind in unserem Horizont gefangen. Man müsste jenseits der eigenen Grenze sein können. Dann aber wäre man in der Position eines anderen. So ist vielleicht der aphoristische Seufzer Elias Canettis (1980) zu verstehen, der meint, als „anderer dürfte man auch sich wieder sehen.“ Ach, so ein „Seher“ müsste noch geboren werden, denn ein anderer kann nicht ich sein und muss mich darum auch notwendigerweise noch weniger kennen als ich mich. Der real mögliche andere – und sei es auch ein ausgebuffter Seelendoktor – weiß zunächst nichts von mir und muss sich mühevoll in langen Gesprächen, tiefenpsychologischen Explorationen und dergleichen durch einen Wust von Einzelheiten arbeiten, um zu Deutungen zu gelangen, von denen er hoffen kann, dass ich sie mir zu eigen mache. Gegebenenfalls werde ich eine „zweite Meinung“ einholen. Bei fortgesetzter Unzufriedenheit über das Ergebnis – ja, welches eigentlich? – können mehrere Deutungs- und Erkenntnishelfer einander ablösen. Darin besteht der Kniff dieser sogenannten Erkenntnis: mir eine Meinung über mich zu bilden, die Autorität hat und mir irgendwie günstig erscheint. Wer möchte sich schon (beispielsweise) als Psychopath einordnen, selbst wenn ihm der PCL-R-Punktwert nach sorgfältigen Tests, die jeder selbst durchführen könnte, ein solches Ergebnis nahelegt? Zu Recht widerspricht Luciano de Crescenzo daher dem Heraklit-Fragment: „Alle Menschen haben die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu denken.“ Vermutlich würde dies, so glaubt der zur Philosophie übergewechselte Wirtschaftsmanager, die Zahl der Selbstmorde erheblich steigen lassen.
In der Tat verfügen wir über keine Kriterien für die Gültigkeit einer Feststellung, die sich als Selbsterkenntnis ausgibt. Das Dilemma besteht darin: Nur ich kann ein Wahrheitsmaß für mich liefern, wo es nur um mich geht. Aber gerade darum darf ich es eigentlich nicht liefern, wenn es noch einer Überprüfbarkeit zugänglich bleiben soll. Die Selbsterkenntnis ist ein Trugbild, das zufällig sogar wahr sein kann, an das man aber glauben muss wie an einen Götzen.
Vor diesem Hintergrund ist die Ironie des platonischen Sokrates zu verstehen. In ihm sahen die Stoiker der römischen Epoche einen der ihren. Über die lakonische Weisheit Delphis wird man in diesen Kreisen gelächelt haben, auch wenn, wie uns der gelehrte Altphilologe entgegenhalten mag, das notorische „gnothi seauton“ in stoischen Texten zu finden sei, so in den Diatriben des Epiktet (Buch III, 22). Hätten der freigelassene Sklave Epiktet, der etwas aufzuschreiben der Mühe nicht für Wert hielt, der Kaiser Mark Aurel, der nur für sich selbst schreiben wollte, der volkspädagogisch ambitionierte „Staatsrat“ Seneca oder der Ephesier Theosebeios – hätten diese also eine Inschrift formuliert, so lautete sie vielleicht: „Beeinflusse dich selbst“ oder „Nimm selbst Einfluss auf dich“. Für Seneca ist die Methode der Wahl eine Übung, durch die wir uns täglich nach Art einer Gerichtsverhandlung zur Rechenschaft ziehen sollen. Auch möchten wir uns bitte „unablässig … mit heilsamen Lebensregeln“ beschäftigen. Die andere Seite der stoischen Weisheitslehre ist allerdings auch, dass sich Seneca unablässig mit der mörderischen Politik von Caligula und Nero befasste und als Theaterdichter glaubte, dem verrohten römischen Publikum mit grausamen Sujets entgegenkommen zu müssen. Stoiker sind keine Spartacisten, ganz gerne aber Moralapostel, wie viele von uns Heutigen.
Für Epiktet zeigt sich die erfolgreiche Einflussnahme auf sich selbst zunächst darin, sich dem Kommunikationsschema aus Vorwurf und Rechtfertigung entziehen zu können. Wie oft mündet nicht die „Selbsterkenntnis“ in einen sich ständig erweiternden Vorrat von Befunden, auf unrechte oder ungünstige Weise erzogen worden oder gar ein „Opfer“ der sozialen Verhältnisse zu sein! Wie erfolgreich hätte ich sein, wie glücklich hätte ich werden können, wären die anderen nicht, wären sie zumindest nicht so, wie sie sind, sondern – eben ganz anders. Der Stoiker schaut auf sich selbst, darauf, was in seiner Verfügung steht. Hierauf nimmt er Einfluss. Er klagt nicht, sondern ist dankbar, an dem großen Fest des In-der-Welt-Seins teilzunehmen. Er will sich dem Widerstreit mit anderen und auch mit sich selbst entziehen. Er dämpft seine Affekte durch (kalte) Vernunft. Daher ist er zumeist kein „Warmduscher“. (Seneca bevorzugte das kalte Bad.) Leider strebt er auch nicht nach Glück, was ihn für viele, vor allem Frauen und junge Leute, wenigstens sympathisch machen könnte. Nach langem Irren will er mit sich in Übereinstimmung leben, um schließlich „unter Windstille auf ruhiger See in die sichere Bucht einfahren“ zu können (Mark Aurel, Selbstbetrachtungen). Es zeigt sich dann, wie weit er wirklich gekommen ist. Erst dann. Wenn der Steuermann ruft. Mit sich so lange bekannt und vertraut, konnte und wollte der Möchtegern-Stoiker (andere gibt es nach Epiktet kaum) sich nie bis zum tiefsten Grunde durchschauen.
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