von Mario Keßler
Im Jahre 1938 warf der aus Deutschland vertriebene Historiker Arthur Rosenberg einen Blick in die Zukunft seines Faches, als er schrieb, es komme für eine neue Generation von Forschern darauf an, „die gegenseitige Isolation der sogenannten bürgerlichen und der sozialistischen Historiker zu durchbrechen“. In einem Deutschland nach Hitler müssten Sozialisten und Kommunisten, bürgerliche Demokraten und sozial-fortschrittliche Katholiken ihre überlieferten Anschauungen und Kampfformeln überprüfen. „In undogmatischer und kritischer Arbeit werden die Historiker [schon in] der Emigration sich gemeinsam bemühen müssen, aus der Negation des Dritten Reiches heraus das positive neue Prinzip deutscher Zukunft für die Geschichtswissenschaft zu entwickeln.“
Arthur Rosenberg, der 1943 in den USA starb, erlebte das Scheitern seiner Hoffnung nicht mehr. Die politischen Verhältnisse im deutschen Nachkrieg standen einem Dialog der Historiker verschiedener Schulen alsbald entgegen. Ein vergleichender Blick auf die Geschichtswissenschaft in beiden deutschen Staaten, und zumal auf ihre Anfänge, ist somit ohne den Verweis auf die politischen Bedingungen, die dem Handeln des einzelnen Historikers Grenzen setzten, kaum erhellend. Personelle Kontinuität und Neuanfang folgten in Ost und West nicht nur innerfachlichen Konstellationen, sondern denen der „großen“ Politik. Welche Auswirkungen dies für die „doppelte“ deutsche Geschichtswissenschaft hatte, sucht das hier vorliegende Buch zu zeigen. Sein Verfasser Matthias Dohmen ist ein pensionierter Lehrer, der sich im Ruhestand dem Thema in Form einer Dissertation zuwandte, die er erfolgreich an der Universität Wuppertal verteidigen konnte.
Die sechs Kapitel des Buches suchen ein möglichst umfassendes Bild der gegensätzlichen Geschichtsbilder in Ost und West vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zu zeichnen. Die Arbeit besticht durch ihren Faktenreichtum, jedoch werden diese Fakten eher assoziativ dargeboten, denn in chronologischer Erzählung entfaltet. Das macht die Lektüre mitunter mühsam und setzt zudem erhebliche Hintergrundkenntnisse voraus.
Nach einer umfangreichen Einleitung, die vor allem die ideologischen Konstellationen des Kalten Krieges behandelt, geht Dohmen im ersten seiner sechs Kapital bis in das Jahr 1923 zurück. Er sieht dieses Jahr mit den gescheiterten Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen als das letzte Jahr, in der die Spaltung zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten noch überbrückbar gewesen wäre; entsprechend unversöhnlich blieben die geschichtspolitischen Interpretationen über dieses Jahr in der ost-, aber auch in der westdeutschen Geschichtswissenschaft noch lange nach der Gründung der beiden deutschen Staaten. Einer allmählichen liberalen Öffnung westdeutscher Historiker stand noch lange das fast totale Diskussionsverbot über Defizite der KPD-Politik in der DDR gegenüber.
Kapitel zwei untersucht am Beispiel der Wiedergründung des Verbandes der Historiker Deutschlands (1949) und der Gründung der Historiker-Gesellschaft der DDR (1958) personelle Kontinuitäten und Brüche beim Neuanfang der Historiker in Ost und West. Unter dem Druck der Alliierten und Teilen der öffentlichen Meinung des In- und Auslandes setzte 1945 zunächst in allen deutschen Besatzungszonen eine Selbstkritik der Fachhistorie ein, die um eine Revision des herkömmlichen Geschichtsbildes bemüht war. Der eindeutige Bruch mit rassistischen und antisemitischen Positionen war Voraussetzung zur Fortführung einer institutionellen Geschichtswissenschaft. Ein radikaler Umbruch ihrer inhaltlichen und methodischen Prämissen blieb im Westen zunächst aus. Langfristig aber sollten die Erfahrungen des Nazismus und seines von außen erzwungenen Zusammenbruches Wirkungen auf die geschichtswissenschaftlichen Inhalte zeigen. Solche Lernprozesse aber waren indirekt auch von der Existenz der Geschichtswissenschaft der DDR beeinflusst, wie besonders das dritte Kapitel zeigt.
Obwohl die SED-Führung der unmittelbaren Nachkriegsjahre auch im Rückblick politisch nicht auf einen Nenner zu bringen ist (noch gehörten ihr Kommunisten und Sozialdemokraten an), ließ die an Stalins Partei- und Staatsverständnis orientierte Konzeption auf längere Sicht keinen Platz für einen demokratischen, damit pluralistischen Begriff des Antifaschismus. Im parteioffiziellen Verständnis wurde der Begriff des Antifaschismus mit der KPD und der SED gleichgesetzt. Nur die Herrschaft der SED auch über die Wissenschaft garantiere den gesellschaftlichen Fortschritt, war die Prämisse. Dies mit den spezifischen Mitteln der Historie zu begründen, war Kern der Geschichtspolitik der Parteispitze und ihres Apparates. Diese Norm prägte – in jedoch individuell sehr unterschiedlichem Maße – die Handlungen derer, die sich mit historischer Forschung und Lehre, mit Konzipierung und Vermittlung von Geschichtsbildern auf den verschiedensten Ebenen befassten.
Die Kapitel vier bis sechs analysieren Geschichtsdebatten in beiden deutschen Staaten nach der Verfestigung der institutionellen Teilung. Dohmen konstatiert einen allmählichen Lernprozess westdeutscher Historiker bereits für die 1950er Jahre. So schien der Historismus als erkenntnisleitendes Prinzip derart fragwürdig geworden, dass der Althistoriker Alfred Heuss den „Verlust der Geschichte“ beklagte. Die Suche nach einem sozialgeschichtlichen Ansatz war jedoch noch keineswegs mit gesellschaftskritischen Vorstellungen verbunden. Die westdeutschen Historiker hatten sich von übersteigerten nationalistischen und militaristischen Ideen lösen müssen. Doch sogar für allmählich sich zu Wort meldende Vertreter einer modernen Sozialgeschichte stand der bürgerlich-kapitalistische Staat jenseits der Kritik. Ein Reformsozialismus, den etwa Politikwissenschaftler wie Wolfgang Abendroth, Werner Hofmann oder Ossip Flechtheim vertraten, fand keinen Eingang in die Historikerzunft, die mit diesem Begriff zutreffend bezeichnet werden konnte.
All dies bot den Kritikern aus der DDR eine offene Flanke. Mit Recht, aber in unnötig groben Duktus wies die DDR-Seite auf die Nazi-Vergangenheit vieler westdeutscher Wissenschaftler hin. Deren Sichtweise auf die Politik deutscher „Eliten“ setzten sie oft fundierte Untersuchungen über den Zusammenhang von imperialistischer Eroberungspolitik, Großmachtchauvinismus, Rassismus und Antikommunismus entgegen. Doch gelang es den DDR-Historikern zu keiner Zeit, kritische Methoden der Analyse auf den Zustand der eigenen Gesellschaft anzuwenden. Die Strukturdefizite des „realen Sozialismus“ konnten auch von solchen Historikern nicht öffentlich benannt werden, die mehr waren als bloße Parteiarbeiter an der historischen Front. Dennoch, und dies möchte der Autor zeigen, ist das Erbe der DDR-Geschichtswissenschaft keineswegs eine bloße Erblast, sondern verdient mit Blick auf die Konstellationen des Kalten Krieges eine kritische Durchmusterung nach Bewahrenswertem.
Matthias Dohmen: Geraubte Träume, verlorene Illusionen. Westliche und östliche Historiker im deutschen Geschichtskrieg, Nordpark-Verlag, Wuppertal, 2015, 456 Seiten, 18,50 Euro.
Schlagwörter: DDR-Geschichtswissenschaft, Erinnerungspolitik, Mario Keßler, Matthias Dohmen, Nazi-Vergangenheit, westdeutsche Historiker