19. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Juli 2016

Eine kurze Geschichte der Evolution

von Frank Ufen

Der Homo sapiens ist mit einem Stoffwechsel ausgestattet, der exakt auf die Lebensbedingungen in den afrikanischen Tropen zugeschnitten ist. Beträgt die Umgebungstemperatur 27 Grad Celsius, verlieren Menschen genauso viel Wärme, wie in ihrem Körper erzeugt wird. Sinkt die Umgebungstemperatur unter diesen Wert, sind sie gezwungen, sich körperlich zu bewegen oder den Wärmeverlust zu reduzieren, indem sie Kleidung tragen oder Wärmequellen wie das Feuer nutzen.
Menschen und ihre direkten Vorfahren müssen sich also auf dem afrikanischen Kontinent von Anfang an äußerst wohl gefühlt haben. Wie ist es dann zu erklären, fragt der Evolutionsbiologe Josef Reichholf, dass Angehörige dieser verschiedenen Spezies sich mehrmals auf das Wagnis einließen, ihren angestammten Kontinent zu verlassen und bis nach Asien, Europa, Neuguinea-Australien und schließlich Amerika vorzudringen? Outlaws dürften die Auswanderer nicht gewesen sein, und auch Raubtiere oder Nahrungsmangel werden sie nicht vertrieben haben. Doch was dann? Tsetsefliegen – behauptet Reichholf.
Damals kam es in den afrikanischen Tropen nämlich immer dann, wenn eine Eiszeit von einer Warmzeit abgelöst wurde und die Niederschlagsmenge erheblich zunahm, dazu, dass die Tsetsefliegen und andere blutsaugende Insekten überhandnahmen. Doch die Tsetsefliegen können den Erreger der Schlafkrankheit übertragen. Gegen ihn sind zwar die großen Säugetiere der afrikanischen Savanne samt und sonders immun, nicht aber die Frühmenschen und der Homo sapiens. Hinzu kam, dass sie wegen ihrer nackten Haut besonders anfällig für Insektenstiche waren. Also, schlussfolgert Reichholf, ist es jeweils dann zu einem Exodus aus Afrika gekommen, wenn als Folge einer feucht-warmen Klimaperiode die Fliegen und Mücken zu einer Massenplage geworden waren.
So gelangte der Homo sapiens nach Asien und Europa, wo er auf eine ähnliche Großtierwelt stieß, doch den Angriffen von Blutsaugern viel weniger ausgesetzt war. Zum Schutz gegen die nächtliche und winterliche Kälte hüllte er sich in Tierfelle und hielt Lagerfeuer in Brand. Und die tieferen Temperaturen machte er sich für die Konservierung von Fleisch zunutze.
In seinen Hautzellen bildet der Homo sapiens den bräunlichen bis schwarzen Farbstoff Melanin, der seine nackte Haut gegen starke ultraviolette Sonnenstrahlung schützt, die Karzinome verursachen kann und das Vitamin B (Folsäure) zerstört. Demnach müsste die Hautfarbe von Menschen desto dunkler sein, je näher sie am Äquator leben, und umgekehrt müsste ihre Haut desto heller sein, je höher die Breiten sind, in denen sie leben. Doch diese Rechnung geht nicht auf. Denn laut Reichholf sind die Ureinwohner Australiens ausnahmslos dunkelhäutig, obwohl nur ein winziger Teil dieses Kontinents zur tropischen Zone gehört. Hingegen sind die Amazonas-Indianer ziemlich hellhäutig, obwohl sie im Tropenbereich leben. Und in Süd- und Südostasien gibt es Ethnien, die sich in ihrer Hautfarbe deutlich unterscheiden, obwohl sie unmittelbare Nachbarn sind und in denselben Breiten zuhause sind.
Laut Reichholf lässt sich der Umstand, dass etliche Menschengruppen in tropischen und subtropischen Gefilden oder auch in Höhenlagen trotz intensiver UV-Strahlung keine stark pigmentierte Haut aufweisen, leicht erklären: Diese Menschen tragen schon derart lange Kleidung, dass die Selektion auf Dunkelhäutigkeit nicht wirksam geworden ist. Die UV-Strahlung kann zwar große Schäden anrichten. Aber sie spielt auch eine Schlüsselrolle für die Synthese des Vitamins D. In den höheren Breiten ist in den Wintermonaten die UV-Strahlung oft derart gering, dass selbst Menschen mit extrem heller Haut Gefahr laufen, an einem Mangel an Vitamin D zu leiden. Es sei denn, sie machen es wie die Inuit und nehmen regelmäßig solche Nahrung zu sich, die reich an diesem Vitamin ist.
Im Zentrum dieses Buchs stehen die Evolution zum Menschen und des Menschen und die Evolution des Lebens überhaupt. Reichholf befasst sich mit der Entstehung des aufrechten Ganges ebenso wie mit dem Verlust des Fells, den Besonderheiten des Gehirns, des Sprechapparats und der Hände des Menschen. Und er zeigt, dass nicht Raubtiere, sondern Insekten, Bakterien, Pilze und Viren den Menschen am meisten zu schaffen gemacht haben.
Reichholf befasst sich mit den Mechanismen und Triebkräften der Evolution, den Hauptetappen der Erdgeschichte, dem Ursprung des Lebens, der Vielfalt der Lebensformen und den wichtigsten Ursachen des Artensterbens. Er beschäftigt sich mit der Entstehung des Golfstroms, der Selbstdomestikation des Hundes und der Welt der Saurier und der Vögel – und der Entwicklungsgeschichte der Vogelfeder. Bei alledem lässt er sich von der Grundannahme leiten, dass die Evolution als ein Prozess der schrittweisen Emanzipation von den Zwängen der Umwelt zu begreifen ist.
Dieses Buch versteht sich auch als ein Jugendbuch. Das ist es auch, allerdings ein anspruchsvolles und ausgesprochen originelles. Reichholf begnügt sich nämlich nicht damit, seine wichtigsten Erkenntnisse bloß in einfachen Worten zu resümieren. Ein exzellentes Buch, das die Augen für die großen Zusammenhänge öffnet.

Josef H. Reichholf: Evolution. Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur, Carl Hanser Verlag, München 2016, 240 Seiten, 22,90 Euro.