19. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2016

Religiöse Nachricht

von Hanns Dieter Hüsch (1925–2005)

Es ging ein wenig schnell und war auch ein
wenig flüchtig – fast hatte ich den Eindruck, daß
es Absicht war – als neulich die Nachricht um
die Erde lief, Gott sei aus der Kirche
ausgetreten.

Viele wollten das natürlich nicht glauben,
ist ja logisch.
„Lüge, Propaganda, Legende!“ sagten sie.

Bis die Oberen und Mächtigen der Kirche sich
erklärten und mit einem sogenannten Hirtenbrief
folgendes erzählten:

„Wir, die Kirche,
haben Gott, dem Herrn,
in aller Freundschaft nahegelegt,
doch das Weite aufzusuchen,
aus der Kirche auszutreten
und gleich alles mitzunehmen,
was die Kirche immer schon gestört:
Nämlich seine wolkenlose Musikalität,
seine Leichtigkeit,
und vor allem Liebe, Hoffnung und Geduld.
Seine alte Krankheit, alle Menschen gleich zu lieben,
seine Nachsicht, seine fassungslose Milde,
seine gottverdammte Art und Weise,
alles zu verzeihen und zu helfen –
sogar denen, die ihn stets verspottet.
Seine Heiterkeit und seine Komik,
Großmut bis zur Selbstaufgabe,
sein utopisches Gehabe,
seine Vorliebe für die, die gar nicht an ihn glauben.
Seine Virtuosität des Geistes über allem, allenthalben,
auch sein Harmoniekonzept, bis zur Meinungslosigkeit,
seine unberechenbare Größe und vor allem
seine Anarchie des Herzens.
Darum haben wir, die Kirche,
ihn und seine große Güte unter Hausarrest gestellt –
äußerst weit gelegen, daß er keinen Unsinn macht.“

Viele Menschen, als sie davon hörten, sagten:
„Ist doch gar nicht möglich.
Kirche ohne Gott?
Gott ist doch die Kirche!
Ist doch eigentlich nicht möglich –
Gott ist ja die Liebe
und die Kirche ist die Macht –
und es heißt: die Macht der Liebe.
Oder?
Oder geht es nur noch um die Macht?“

Andre sprachen auch nicht schlecht:
„Kirche ohne Gott –
Leute, warum nicht Kirche ohne Gott?
Ist doch gar nichts Neues!
Gott kann sowieso nichts machen.
Heute ist doch wirklich alles anders.
Nee nee, Gott ist out, Gott ist out
als Werbeträger nicht mehr zu gebrauchen.
Und die Kirche hat zur richtigen Zeit
das Steuer rumgeworfen.
Kirche ohne Gott – das ist der neue Slogan.“

Doch den größten Teil der Menschen
sah man hin und her
durch alle Kontinente ziehen,
und sie sagten:
„Gott sei Dank. Endlich ist er frei.
Kommt. Wir suchen ihn.“

Diesen Text trug Hanns Dieter Hüsch 1989 auf dem 23. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin vor.

Aus – Georg Bungter/Jürgen „Moses“ Pankarz: Der Große Hüsch. Das Beste aus 33 Büchern, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Christiane Rasche-Hüsch.