19. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2016

Napoleon Bonaparte – ein zu kurzer Großer?

von Septentrionalis

Napoleons Eroberungsdrang wird bis heute gern mit seiner angeblichen körperlichen Kürze in Verbindung gebracht: Erdnuckel oder vertically challanged people, wie es heute politisch korrekt heißt, neigten – so eine verbreitete Auffassung – dazu, ins Tyrannische zu enteilen und das eine Defizit durch Auffälligkeiten anderenorts überzukompensieren. Solches Verhalten wird gern auch als Napoleonkomplex apostrophiert. Weitere Bespiele kennt man ja: Nero, Hitler, Tom Cruise, Peter Maffei.
Doch was Bonaparte anbetrifft, so sind die Zweifel nie völlig verstummt …

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Am Nachmittag des 6. Mai 1821 liegt Frankreichs berühmtester Sohn auf einem Billardtisch. Keine 24 Stunden ist es her, dass Kaiser Napoleon I. gut 8.200 Kilometer entfernt von Paris im Longwood House auf der entlegenen Atlantikinsel St. Helena das Zeitliche gesegnet hat. Drei französische Generale, einige englische Offiziere, fünf englische Ärzte und acht Ärzte unterschiedlicher Nationalität beobachten die vom korsischen Leibarzt Francesco Antommarchi vorgenommene Autopsie. Der Verstorbene selbst hat sie gewünscht.
Zwar können sich die vielen Ärzte anschließend nicht auf ein ge­meinsames Communiqué einigen. Die Engländer stellen einen Magenkrebs in den Vordergrund (bis heute die plausibelste Todesursache), die Franzosen ein Leberleiden. Letzteres würde besser zur angeblich schlechten Behandlung Napoleons passen. Aber man sollte doch denken, dass wenigstens mit der Vermessung des kaiserlichen Leichnams alle Zweifel hinsichtlich der Körpergröße für alle Zeiten aus­geräumt sein müssten.
Tatsächlich heißt es in den schriftlich festgehaltenen Beobachtungen von Antommarchi, der unter Beobachtung so vieler Kollegen kaum einer Lüge im Hinblick auf ein so offensichtliches Merkmal seines Patienten verdächtig ist, unter Punkt vier glasklar: „Die ganze Länge des Körpers, vom Scheitel bis zur Sohle, betrug 5 Fuß, 2 Zoll und 4 Linien.“
Glasklar?
Die Tücke für die Nachwelt: Beim Tod des Korsen ist Fuß in England nicht gleich Fuß in Frankreich. Der Unterschied macht immerhin 6,6 Prozent aus. Die fünf Fuß (foot), zwei Zoll (inch) wären nach englischer Rechenweise metrisch 1,57 Meter. Hätten die Ärzte allerdings bei Antommarchis Autopsie den französischen Fuß als Maßeinheit übernommen, was ja nicht völlig unwahrscheinlich klingt, dann wäre der große Korse auch körperlich länger gewesen: nämlich 1,68 Meter.
Immerhin ein Unterschied von 11 Zentimetern. Was Bonaparte immerhin stattlicher als eine ganze Phalanx zu unserer Zeit temporär bedeutsamer europäischer Staatsmänner wie etwa Nicolas Sarkozy (1,65 Meter) oder Silvio Berlusconi (1,65 Meter) machen würde. Dmitry Medvedev gar bringt es nur auf 1,63 Meter. Da könnte Napoleon mehr als mithalten.
Auch Louis Constant Wairy, 14 Jahre Napoleons Kammerdiener, nennt in seinen Memoiren die fünf Fuß und zwei Zoll, die aus dem Autopsiebericht bekannt sind. Dass er dabei etwas anderes als französische Fuß – und damit 1,68 Meter Körpergröße – gemeint haben könnte, ist ziemlich unwahrscheinlich.
Und noch ein argumentatives Schwergewicht für eine größere Länge kommt hinzu: Jean-Nicolas Corvisart, des Kaisers Leib­arzt seit 1804, beschreibt seinen Patienten präzise mit fünf Fuß, sechs Zoll. Und das ausdrücklich in den (längeren) französischen Maßeinheiten.
Mithin wahrscheinliche 1,68 Meter des Kaisers wären umso bemerkenswerter, weil die Menschen zu seinen Lebzeiten generell kleiner als heute gewesen sind. Minimal – nämlich um zwei Zentimeter – übertrifft Napoleon mit 1,68 Metern sogar die damalige männliche Durchschnittsgröße der Franzosen.
Aber woher kommen dann die vielen zeitgenössischen Anspielungen auf kaiserliche Mickerigkeit? Selbst seine Truppen nannten ihn den „kleinen Korporal.
Für diese höchst positiv gemeinte Bezeichnung gibt es allerdings mindestens zwei plausible Erklärungen, von denen eine durchaus mit der Körpergröße des Kaisers zu tun hat: Die ihn unmittelbar umgebenden Soldaten, seine Garde, hatten damals nämlich „Gardemaß“ zu haben. Unter sechs Fuß, also 1,80 Meter, wurde man gar nicht zugelassen. Im Vergleich zu seiner Grade war Napoleon also tatsächlich „klein“.
Zudem könnte – und das scheint die plausiblere Variante zu sein – der Ausdruck etwas mit Napoleons Nähe zum gemeinen Soldaten zu tun haben. Ein zeitnaher Historiker, Joachim Ambert, erläutert: „Sie kannten ihn Alle. Sie erzählten ihm von ihren Schlachten, ihren Reisen; sie sagten nicht Sir! oder Ew. Majestät! Wohl aber mein Kaiser! Wie man mein Sergeant, mein Lieutenant sagt, es war ein Grad; die Infanterie war mit Napoleon identifiziert, sie gab ihm den unsterblichen Beinamen: Der kleine Korporal!“ „Der kleine“ also im Sinne von: einer von uns.
Als der Ex-Kaiser 1815 aus seinem ersten Exil in Elba nach Frankreich übersetzte und ihm königliche Truppen entgegengeschickt wurden, soll ein Soldat gerufen haben: „Es lebe unser kleiner Korporal, wir werden nie gegen ihn fechten.“ Danach sitzt Napoleon bis Waterloo in Frankreich wieder fest im Sattel. Wenig wahrscheinlich, dass dieser Rufer mit einer Anspielung auf einen zu geringen Wuchs des Korsen seine schwankenden Kameraden mitgerissen hat. Im Sinne von „das ist doch einer von uns“ erscheint dies eher denkbar.
In diesem Zusammenhang fällt auf, dass der Korse in den ihm freundlich gesonnenen oder neutralen Darstellungen seiner Zeit keineswegs als übermäßig klein beschrieben wird. Ein Amerikaner, der Napoleon 1802 trifft, schätzt ihn in seinen Memoiren auf nicht größer als fünf Fuß, sechs Zoll (vermutliche angelsächsische Maße = 1,68 Meter). Der Maler Benjamin West tippt gar auf fünf Fuß, sieben Zoll, also 1,70 Meter.
Schwer zu kontrollieren, wie genau solche Zeitzeugen die Größe damals kennen oder halbwegs zutreffend einschätzen können. Aber keiner von ihnen spricht von einem auffallend kleinen Menschen.
Ganz anders das Bild in „feindlichen“ Anspielungen, Karikaturen und Zeichnungen, allen voran in England. Napoleon also ein Opfer der englischen Feindpropaganda?
Verwunderlich wäre es nicht, dass die Engländer, die 1803 gerade eine Invasion ihrer Insel durch napoleonische Truppen befürchteten, den Ersten Konsul zur eigenen moralischen Ertüchtigung als „Little Boney“ verspotteten. Diese Kunstfigur wird damals von James Gillray erfunden, einem beliebten englischen Karikaturisten. Der ver­kleinert den Gegner gleich doppelt: Mit dem Zu­satz „Little“ und der Verkleinerungsform „ey“ am Ende des Spottnamens. Gillray bezog sich bei seiner Radierung bekanntlich auf den Roman „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift. Dort beschaut sich Georg III., der Riesenkönig von Brobdingnag, mit einem Fernglas den auf seiner Handfläche mit gezogenem Säbel stehenden Napoleon und äußert: „[…], dass du eins der gefährlichsten kleinen Reptile bist, denen die Natur je erlaubt hat, auf dem Antlitz der Erde herumzukrabbeln“.
„Einem lächerlichen Giftzwerg würde das Vereinigte Königreich doch wohl widerstehen können“, deutet eine Napoleonbiographie diese Karikierung.
In den meisten ernst gemeinten zeitgenössischen Gemälden und Zeichnungen hingegen wirkt der Kaiser in der Körpergröße ganz normal. Auf hoch offiziellen Gemälden schon ganz und gar. Im Hinblick auf letztere könnten Kritiker natürlich einwenden, die Maler hätten angesichts des mächtigen Mannes halt ein wenig geschönt. So zum Beispiel Jacques-Louis David, der „erste Maler des Kaisers“, auf seinem im Louvre hängenden sechs mal zehn Meter große Schinken „Krönung in Notre Dame“, bei der Napoleon sich und seiner Frau Josephine selbst die Kaiserkronen aufsetzt. Man hat nicht den Eindruck, dass der Monarch dabei gegenüber den vielen Zuschauern in der körperlichen Länge abfällt. Selbst die mit ihm auf der obersten Stufe stehenden Prälaten scheinen ihn nicht zu überragen. Ob darin vielleicht doch künstlerische Freiheit oder eher politische Pression steckt, ist allerdings kaum noch zu verifizieren.
Nun könnte man ja auf die Idee kommen, Wissenschaftler sollten einfach mal nachmessen. Schließlich wird ein nationales französisches Idol offenbar seit zwei Jahrhunderten als mickrige Erscheinung verhöhnt. Wo liegen eigentlich die sterblichen Überreste des Korsen?
Anfangs wird er, auf Befehl der Engländer und gegen seinen Wunsch auf St. Helena beerdigt. Knapp zwei Jahrzehnte nach seinem Ableben aber geht der Ex-Kaiser noch einmal auf Reisen. „La Grande Nation“ holt den Verblichenen glanzvoll nach Hause. Eine hochkarätige Delegation reist auf der Insel im Südatlantik an, um den dort in einem simplen Grab ruhenden Leichnam zweifelsfrei zu identifizieren. Knapp zwei Minuten wird der Sarg geöffnet, um nicht unnötig lange Luft eindringen zu lassen. Dann ist klar, der Tote ist Napoleon Bonaparte aus Ajaccio auf Korsika.
In bemerkenswert gutem Zustand soll er gewesen sein, was Verschwörungstheoretiker seither in ihrer Meinung bestärkt, der Gefangene sei schleichend mit Arsen vergiftet worden. Am 15. Oktober 1840 unterzeichnen die Engländer und Franzosen in St. Helena ein gemeinsames Communiqué, in dem sie den Ablauf der Exhumierung festhalten. Wer das wollte, konnte dieses Dokument zwei Monate später in der Londoner Times wortwörtlich auf Seite drei nachlesen.
Der Kaiser fand seine bis heute letzte Ruhe im Pariser Invalidendom. 1861 war auch sein aus finnischem Porphyr gehauener Sarkophag endlich fertig. Alle Versuche ihn dort noch einmal zu stören, etwa für eine DNA-Untersuchung, sind jedoch vom französischen Staat beharrlich abgewiesen worden.
Viele Franzosen und Napoleonfans schon gar haben die Gefangenschaft des Korsen auf St. Helena im Übrigen als skandalös empfunden: Ein nickeliger Gouverneur, der große Kaiser in einem besseren Einfamilienhaus (Longwood House), nur ein überschaubarer Hofstaat. Schockierend.
Zumindest nahrhaft muss das Leben auf der Insel für Napoleon aber trotz allem gewesen sein. Denn bis auf das letzte Lebensjahr, in dem er offensichtlich schwer krank ist, wurde der Verbannte immer dicker. Auf dem Höhepunkt hatte er 30 Kilo Übergewicht. 1820 hätte er, so deuten seine Hosen an, um die 90 Kilo auf die Waage gebracht. Erst danach nimmt er krankheitsbedingt zehn Kilo ab, bringt es aber immer noch auf stattliche 80 Kilo. Nicht gerade ideal für einen Mann von 1,68 Meter Körpergröße.
Ein rundlicher Mann also, mit dickem Bauch, der vor sich hin schmollt, lieber im Regen mit der Kutsche umherfährt als den englischen Gouverneur zu empfangen.
Bis an das Ende seiner Tage in Feindeshand.
Und als letzte Rache noch die Verhöhnung als Kleinwüchsiger.
Post mortem.
Pfui!