von Alfred Askanius
Die Maya gehören zu den rätselhaftesten Völkern Alt-Amerikas. Und sie sind nicht untergegangen: Heute zählen zu ihnen etwa 6,1 Millionen Menschen, die in Mexiko, Belize, Guatemala, Honduras und El Salvador leben. Auch politisch sprechen sie durchaus ihre eigene Sprache: Die zapatistische Bewegung im mexikanischen Bundesstaat Chiapas wird von vielen Angehörigen der Tzotzil getragen, einem Maya-Volk, das seine Wurzeln bis in die späte klassische Periode der Maya-Hochkulturen (600 bis 900 unserer Zeit) zurückverfolgen kann. In Guatemala sind es circa 40 Prozent der Bevölkerung, die den Maya zugerechnet werden.
Die von den Maya in präkolumbianischer Zeit entwickelte Hochkultur brachte Stadtstaaten mit einem hohen zivilisatorischen Standard hervor. Bereits in der Zeit zwischen 600 und 900 unserer Zeit wurden die von städtischen Siedlungen mit mehr als 10.000 Einwohnern dominiert. Das sind für die zeitgleich vor sich hinsiechenden Städte Europas mitnichten vergleichbare Dimensionen. Die Metropolenregion des guatemaltekischen Tikal soll im 8. Jahrhundert bis zu 200.000 Einwohner umfasst haben.
Seit jeher legendenumwoben gehören die Maya-Kulturen, der Plural ist hier bewusst gesetzt, mittlerweile zu den am besten erforschten Kulturen des präkolumbianischen Amerika. Die Entzifferung ihrer Schrift, die gründliche Auseinandersetzung mit ihren mathematischen und astronomischen Leistungen waren dafür sicher entscheidend. Dennoch sind nach wie vor viele Fragen ihrer Geschichte und Kultur offen: Umstritten sind immer noch die Ursachen des Zusammenbruchs der klassischen Hochkultur im Zentrum Yucatáns im 9. Jahrhundert, rätselhaft sind durchaus die Umstände des Weiterbestehens oder der Neugründung von Maya-Zentren in den Jahrhunderten danach. Nicht minder voller Geheimnisse ist die Geschichte ihrer Beziehungen zu den mächtigen Nachbarn im Norden.
Kukulcan, die „gefiederte Schlange“, der Gott der Auferstehung und der vier Elemente, kam von den Tolteken nach Chichén Itzá. Bei den Tolteken und den Azteken hieß er allerdings Quetzalcoatl und spielte eine wichtige Rolle bei der Zerschlagung des Großreiches durch Hernán Cortés. Auch der endgültige Untergang der Hochkulturen der Maya war ursächlich ein Ergebnis der spanischen Conquista.
Durch die europäischen Medien immer wieder wabernde Legenden wie die von der besonderen Friedfertigkeit der Maya sind von der modernen Forschung längst widerlegt. Es waren durchaus kriegerische Kulturen, zu deren wesentlichen rituellen Bestandteilen auch Menschenopfer gehörten – wenngleich diese wohl nie so exzessiv praktiziert wurden, wie wir es von den Azteken des mexikanischen Hochlandes kennen. Allerdings sind die Sprache ihrer Symbole und die für europäische Augen ungewohnten Bildwelten, gepaart mit einem gerüttelt Maß Halbwissen und Denkfaulheit, trefflich geeignet, nach wie vor die abenteuerlichsten Theorien entstehen zu lassen. Die Interpretation des Grabplattenreliefs Königs Pakals von Palenque durch Erich von Däniken als Darstellung eines sich in seinem Raumschiffsessel lümmelnden Astronauten ist sicher nur die skurrilste von allen. Man sollte da aber nicht zu hochnäsig urteilen: Die angeblich astronomisch gestützte präzise Benennung des Weltunterganges vom 21. Dezember 2012 durch den Maya-Kalender beschäftigte weltweit durchaus nicht nur Esoteriker…
Versucht man nun, eine zeitliche Klammer für die Geschichte der Maya-Hochkulturen zu finden, so kommt man auf einen Rahmen, der gut 3.000 Jahre umfasst: Um 1.500 vor dem Beginn unserer Zeitrechnung wurde die im heutigen Belize gelegene Stadt Lamanai gegründet, in den 1520er Jahren gingen diese Hochkulturen endgültig unter. Selbstverständlich gab es in dieser außerordentlich langen Zeitspanne historische und kulturelle Brüche – ebenso wie Kontinuitäten. All dies bildete sich auch in den Künsten ab. Zumal diese mitnichten im modernen Sinne „autonom“, sondern wie in allen antiken Hochkulturen fester Bestandteil des religiösen Lebens waren, das in seiner Formensprache selbst die unscheinbarsten Zeugnisse des Alltagslebens prägte. Auch die Götterwelt der Maya unterlag in ihrer dreitausendjährigen Geschichte einem ständigen Wandel in Wesen und Gestalt.
Derzeit versucht eine von der mexikanischen Regierung – konkret vom Instituto Nacional de Anthropologia e Historia (INAH) – veranstaltete Schau im Berliner Martin-Gropius-Bau, die Geheimnisse dieser Kunst zu erschließen. Mit historischen Kontextualisierungen geben sich die Ausstellungsmacher gar nicht erst ab. Sie suchen das Gemeinsame in der Kunst der Maya-Hochkulturen über die Jahrhunderte hinweg und kommen auf die althergebrachte Kategorie der „Schönheit“. Dass diese ohne ihr Pendant undenkbar ist, kommt ihnen nicht in den Sinn. Das Hässliche wird ausgeklammert. Übrigens auch das Hässliche in der Geschichte. Natürlich kommt man um dieses nicht herum, wenn beispielsweise zwei eindrucksvolle Sandsteinreliefs aus Toniná (Chiapas) zur Opferung vorbereitete Kriegsgefangene darstellen. Furcht und Resignation sind diesen förmlich in das Gesicht gemeißelt. Wenn Ausstellungsführer ausgerechnet vor diesen Figuren Schulkindern erklären, dass der Krieg bei den Maya eine kaum Opfer fordernde Angelegenheit gewesen sei, steht man einigermaßen sprachlos im Saale. Da taucht sie wieder auf, die Legende unserer Altvorderen vom „edlen Wilden“.
Die Kuratorin Karina Romero Blanco formulierte das Anliegen der Ausstellung etwas umständlicher: „Zeiträume, Stilrichtungen und Funktionen fließen ineinander zu einem Gesamtbild der Maya-Kunst und der sich in ihr manifestierenden ästhetischen Werte.“ Das ist das Problem. So wird eine postkoloniale Ästhetik formuliert, deren Ziel darin besteht, die präkolumbianische Kunst Amerikas aus dem dubiosen Schatten der ethnologischen und anthropologischen Museen herauszuholen – indem man ihr einen ästhetischen Eigenwert analog der antiken Kunst des Mittelmeerraumes und des Vorderen Orients zubilligt. Der grandiose Irrtum von „edler Einfalt und stiller Größe“ Johann Joachim Winckelmanns kommt uns hier gleichsam „auf indianisch“ entgegen.
Diese Kunstwerke haben das nicht nötig. Sie sprechen für sich. Sie sind von hoher artifizieller Qualität. Das willkürliche Zuordnen nach Themen wie „Der Körper als Leinwand“, „Der bekleidete Körper“, „Das Tier als Ebenbild“ und „Der Körper der Götter“ ist Betrachtern, die jeglichem Exotismus misstrauisch entgegentreten, eher lästig. Mein Rat: Ignorieren Sie die ideologischen Verrenkungen der Kuratoren und der geldgebenden Kulturpolitiker. Lassen Sie sich durch die Ausstellung treiben. Sie werden die Stücke Ihres Herzens herausfinden und gebannt an ihnen hängenbleiben.
Bei mir war es ein Weihrauch-Gefäß aus Mayapán (Yucatán) in der Gestalt eines Brüllaffen-Menschen aus der postklassischen Periode (1250–1527). Der Affe war für die Maya der Schutzpatron der Künste. Dieser hier hält Pinsel und Tintenfass in den Händen. Ihre Kinder aber werden sicherlich bei den Tierdarstellungen innehalten. Zeigen Sie ihnen den Nasenbären aus Tenem Rosario (Chiapas). Bei den Bauern ist das Tier nicht sonderlich beliebt. Sie meinen, er mag Mais. Aber man sagt ihm nach, dass er den Samen verbreitet – der Nasenbär-Gott ist daher wesentlich verbunden mit den Schöpfungsmythen der Maya, wie sie im berühmten „Popol Vuh“, dem „Buch des Rates“ festgehalten wurden.
Einem ersten Fallstrick des „Schönheits“-Konstruktes der Ausstellungsmacher begegnet am übrigens schon Eingang. Die Besucher begrüßt ein sitzender Fahnenträger aus Chichén Itzá aus der Zeit zwischen 800 und 1250, eine exzellent gearbeitete Kalksteinfigur. Offensichtlich gehörte der Dargestellte – die Deformationen des Schädels weisen darauf hin – einem höheren Stand an. Die Mimik hingegen drückt durchaus Schmerz und Verzweiflung aus. Es ist offensichtlich ein Gefangener, möglicherweise auch er zur Opferung vorgesehen: Den Ohrschmuck entfernte man diesen bedauernswerten Personen und zog ihnen statt dessen Papier- oder Textilstreifen durch die Ohrlöcher.
„Was die Schönheit ist, vermag ich nicht zu sagen. Allein, ich weiß, sie haftet vielen Dingen an“, sagte Albrecht Dürer. Ausstellungen, die unter dem Schönheits-Kriterium kuratiert wurden, sollte man mit einer gewissen Vorsicht begegnen. Dennoch: Diese lohnt den Besuch!
Maya – Sprache der Schönheit, noch bis zum 7. August 2016 im Martin-Gropius-Bau Berlin; Katalog im Prestel Verlag, München-London-New York 2016, 239 Seiten, 39,95 Euro (in der Ausstellung 29,00 Euro).
Schlagwörter: Alfred Askanius, Martin-Gropius-Bau, Maya, Mexiko, präkolumbianische Kunst, Schönheit