19. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2016

Zur Rolle der Phantasie im Werk der Grundigs*

von Oliver Sukrow

Die Rezeption des Triptychons „Das Tausendjährige Reich“ unterlag in der SBZ/DDR starken Schwankungen und war keineswegs durchgehend positiv, wie man aufgrund des Inhalts und des Lebensweges seines Schöpfers vermuten würde. Im Gegenteil: Während Grundigs Visionen in den 50er Jahren aufgrund ihres mangelhaften Realitätsgrades abgelehnt wurden, veränderte sich die Situation erst ab den 60er Jahren.
Ähnliches galt für seine Frau: Noch 1951 wurde Lea Grundigs Zyklus „Niemals wieder!“ in der Täglichen Rundschau scharf attackiert und als „Irrweg“ der modernen Kunst gebrandmarkt, wogegen sich beide Grundigs publizistisch zur Wehr setzten. Die spätere Anerkennung hatte sich auch durch Lea Grundigs Engagement für das Werk ihres Mannes und die Forschungen der sozialistischen Kunstwissenschaft, etwa an der Universität Greifswald, eingestellt. Texte wie „Bekenntnis und Widerstand. Gedanken zur Problematik ‚Antifaschistischer Kunst‘“ von Hannelore Gärtner oder Lea Grundigs „Über das Verhältnis von Inhalt und Form“ stehen dafür exemplarisch. Grundig beschrieb das Triptychon als „Meisterwerk des Realismus“, das „in phantastischen Formen […] die Wirklichkeit jener Jahre zeige“. Die Dimensionen der NS-Terrorherrschaft seien nicht ausschließlich mit realistischen oder naturalistischen Mitteln widerzugeben, da dieser Schrecken die bildhafte Vorstellungskraft teilweise übersteigen würden. Und: Eine – im sowjetischen Sinne – „wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung“ wäre der NS-Ästhetik ähnlich gewesen, was die Grundigs als Problem sozialistischer Kunstdiskurse betrachteten.
Für Lea Grundig handelte es sich beim Werk Hans Grundigs um einen „besonderen“, gesteigerten Realismus – auffällig ist, dass sie den Fachterminus „magischer Realismus“ vermied. In Leas Sichtweise präsentierte Hans dem Betrachter einerseits eine imaginäre Welt voller verfremdeter Darstellungen, andererseits ein authentisches, in seiner Aussagekraft gesteigertes Bild vom Faschismus, das besser als jedes naturalistische Abbild – wie Foto oder Film – dazu geeignet sei, eine Botschaft zu vermitteln. Dafür bediente sich der Künstler „phantastischer Formen“, welche die Emotionen des Betrachters ansprechen sollten – eine künstlerische Strategie, die ebenfalls Leas expressionistische Holocaust-Zyklen der 40er Jahre prägen. Die „Spielereien“, insbesondere die Grotesken und die bizarre Kulisse, seien, wie Lea Grundig schreibt, kein ästhetischer Selbstzweck, sondern hätten eine sinnstiftende Funktion zur Verdeutlichung der gegen Faschismus und Krieg gerichteten Bildaussage. Hans Grundig bediente sich der bewussten Übertreibung und der Groteske, um die wahre Erscheinung hinter der Maskerade aufzudecken, was im Bild seine konkrete Gestalt durch den Karneval erfährt.
DDR-Kunstwissenschaftler wie Wolfgang Hütt oder Günter Feist argumentierten in der Folge – konträr zu Gorki –, dass Grundig ein „Meister eines visionären Realismus“ gewesen sei, der das „Phantastische und Überwirkliche“ als ästhetisch legitime Mittel des Realismus fruchtbar gemacht habe.
In der Interpretation des „Tausendjährigen Reichs“, die Lea Grundig durch ihr Buch „Über Hans Grundig und die Kunst des Bildermachens“ bis heute bestimmt, nahm sie eine positive Haltung zur künstlerischen Phantasie ein. Allerdings: Während sie im Hinblick auf Hans Grundig die „Phantasie als kreatives Vermögen der Anschauung“ im Sinne der deutschen Romantik aktualisierte, zeigte sie sich während der 60er Jahre im Umgang mit anderen „phantastischen“ Werken von Werner Tübke oder Bernhard Heisig kritisch und sprach von einer Flucht in schöne Formen und einer zunehmenden „Vergeistigung“ bei gleichzeitiger Verflachung der emotionalen Anschauungswerte. Und obwohl Tübke wie auch Heisig Werke gegen Krieg und Faschismus schufen, galten für die Grundig im Falle der „Leipziger Schule“ andere Maßstäbe.
Die Fähigkeit Hans Grundigs, sich die politische Botschaft des kommunistischen Widerstands ästhetisch anzuverwandeln und in neuartige Formen umzusetzen, bezeichnete Lea Grundig 1972 als ein „natürliches, dem Menschen angeborenes Vermögen, seine Umwelt nicht nur in der wissenden Erkenntnis zu durchdringen, sondern sie sich auch in anderen Formen erkennbar zu machen“. Es sollte jedoch, wie Ulrike Goeschen in ihrem 2001 erschienenen „Vom Sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus“ gezeigt hat, noch etliche Jahre dauern, bis Werke des Antifaschismus, die formal nicht dem Diktat des Sozialistischen Realismus folgten, in der DDR als wertvolle Beiträge zur deutschen bildenden Kunst gewürdigt werden konnten. So verwundert es nicht, dass Hans Grundigs die deutsche Schuld am millionenfachen Mord in den KZs ansprechende Bilder „Den Opfern des Faschismus I und II“ nie zu Gründungsikonen der DDR avancierten. Stattdessen wurde ein zurückhaltender Spätimpressionismus Dresdner Prägung favorisiert, wie ihn Rudolf Bergander vertrat. Er schuf mit dem „Hausfriedenskomitee“ von 1952 nicht nur das Sinnbild des harmonisierten Neuanfangs, sondern war auch während des „Dritten Reiches“ auf den Großen Deutschen Kunstausstellungen im Münchner Haus der Kunst prominent vertreten – mit „Trommel und Fahne“ von 1940 sowie mit dem „Signal“ von 1941.
In seinem Buch zum „Phantastischen in der Kunst“ vertrat der Kunsthistoriker Werner Hofmann die These, dass die abendländische Kunstgeschichte zwischen zwei unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Darstellungsmodi einer (nicht normativ gemeinten) „Oberklasse“ und einer „Unterklasse“ angesiedelt sei. Erstere stehe für den Verstand, die empirisch-nachvollziehbare Wahrnehmung der Welt und deren Nachahmung im Bild ein; sie habe in Realismus und Illusionismus ihren ästhetischen Ausdruck. Dahingegen repräsentiere die zweite Kategorie den Einspruch gegen die rational-empirische Wahrnehmung und Darstellung der Welt, sie setze auf Gefühl, Phantasie und Vision. Während die „Oberklasse“ – Raffael, Poussin und ihre Nachfolger im 19. Jahrhundert – eine Präferenz für „Maß, Regel und Gesetz“ hätten, negiere die „Unterklasse“ dieses statische System. Deswegen hätten derartige Kunstwerke zu einem „Instrument des Widerspruchs und der Befreiung von rationellen Festlegungen und Beschränkungen“ werden und eine phantastische Gegenwelt erzeugen und damit auch den politisch Mächtigen gefährlich werden können. Hofmann lässt die „Phantasiestücke“ am Übergang zur Frühen Neuzeit beginnen.
Den eigentlichen Höhepunkt aber erreichte das Phantastische im frühen 19. Jahrhundert mit Goya. In einer Rezension machte die Kunsthistorikerin Ulli Seegers darauf aufmerksam, dass sich, beginnend mit der Romantik, „die Trennlinien zwischen Empirie und Phantastik, zwischen sachlicher Wiedergabe und phantastischer Umformung allmählich auflösen und sich zu eigentümlichen Mischungen, bildimmanenten Kopplungen und polarisierenden Konfrontationen wandeln“. Gleiches trifft wohl auch auf Grundigs Triptychon zu.
Die „Phantasiestücke“ enden bei Hofmann mit den Surrealisten Max Ernst und Paul Klee. In deren „Weltkriegsbildern“ sah Hofmann den Schlussakzent des Phantastischen in der Kunst, freilich ohne Beachtung des Schaffens von Hans und Lea Grundig.
Als zentrales Bild im antifaschistischen Widerstand des Künstlerehepaars Grundig zeugt das Triptychon von einer Bipolarität schöpferischer Phantasie und konkreter politisch-sozialer Aussage. Hans Grundig stellte in einem avantgardistischen Sinne die klassischen Normen und Grenzen der künstlerischen Widerspiegelung der Realität auf die Probe. Er schuf sowohl im Kontext der NS-Diktatur als auch im Rahmen der Realismus-Debatten in der frühen DDR „kontroverse und subversive Bildwelten […] voller Überraschungen, Rätsel und Melancholie sowie voller verdrängter Träume, Ängste und Begierden“, wie Yasmin Doosry schreibt.
Es gilt, die Phantasie im Werk Hans und Lea Grundigs immer wieder neu zu entdecken.

* – Teil I dieses Beitrages erschien im Blättchen 10/2016.