19. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2016

Zur Rolle der Phantasie im Werk der Grundigs

von Oliver Sukrow

Die künstlerische Phantasie ist die Fähigkeit, Bilder in der inneren Vorstellungskraft zu erzeugen und sie artifiziell zu entäußern.
Der Phantasie kommt im Schaffen von Hans (1901-58) und Lea Grundig (1906-77) eine besondere Bedeutung zu. Die Grundigs waren meisterhaft darin, mittels visueller und inhaltlicher Widerhaken die Vorstellungskraft des Betrachters in Gang zu setzen und Sehgewohnheiten zu hinterfragen. So zählen die surrealistischen Stadtlandschaften von Hans Grundig aus den späten 1920er Jahre und seine allegorischen Tierstücke oder die grafischen Zyklen von Lea Grundig, welche die NS-Rassenpolitik und die Judenverfolgung anklagten, zu bedeutenden Beispielen phantastischer Kunst. Und auch nach 1945 schuf Hans Grundig bis in die 1950er Jahre mit den Buchillustrationen zu François Villons Kleinem Testament in diesem Genre Herausragendes.
Die kunstgeschichtliche Würdigung des Werkes der Grundigs kann also nicht nur in der Synthese von linker politischer Überzeugung und ästhetischem Schaffen gesehen werden, sondern ebenso darin, dass beide zeitlebens versuchten, die Phantasie als künstlerische Inspirationsquelle und als legitimes Mittel der kultur-politischen Arbeit gegen vielseitige Widerstände zu verteidigen. Beide setzten sich in ihrem Eintreten für die künstlerische Phantasie in der DDR dabei immer wieder der Gefahr aus, in Konflikt zu den vorherrschenden, verbindlichen Regeln des Sozialistischen Realismus als parteiliche Widerspiegelung der Wirklichkeit zu geraten.
In der 1957, wenige Jahre nach dem Formalismus-Streit und kurz vor seinem Tod erschienenen Autobiografie Zwischen Karneval und Aschermittwoch berichtet Hans Grundig vom antifaschistischen Widerstandskampf in Dresden, der seinen Ausdruck im Triptychon Das Tausendjährige Reich fand. Er schildert die Szene als „apokalpytischen Eindruck“ unter einem „blutigen, düsteren Himmel“. Das Ziel seines Bemühens sah Grundig darin, mit diesem Bild „allen Menschen eine Warnung vor dem unausbleiblichen Krieg zu geben, den die Menschheitsmörder vorbereiteten“. Bei dieser eindeutigen Aussage schien Grundig mit Blick auf die kulturpolitische Situation der DDR eine Einschränkung notwendig zu sein. Sie betraf den Realitätsgrad des Abgebildeten und dessen Verhältnis zur empirisch-wahrnehmbaren Welt: „Ein Abbild der Wirklichkeit war es für alle, die zu lesen verstanden.“ Nicht die mechanische Widerspiegelung der sinnlich-erfassbaren Wirklichkeit war für Grundig Thema, sondern die Gestaltung einer zweiten, durch Gefühle, Emotionen und Stimmungen zugänglichen Realität, die die Sehgewohnheiten und die durch die Propaganda vorgegebenen Meinungen unterlaufen sollte.
Steht man heute, 80 Jahre nach seiner Entstehung, vor diesem monumentalen Meisterwerk der antifaschistischen Kunst im Dresdner Albertinum, so wird verständlich, warum Grundig in den 1950er Jahren im Formalismus-Streit für seine frühen Werke angefeindet worden ist. Denn sie entsprachen weder in gestalterischer noch inhaltlicher Hinsicht den ästhetischen Forderungen des Sozialistischen Realismus nach sowjetischem Vorbild, wie sie Maxim Gorki in seiner berühmten Rede auf dem Ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller 1934 in Moskau formuliert hatte – nur ein Jahr vor Beginn der Arbeiten Grundigs am Bild. Gorki forderte „[…] vom Künstler die wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung“.
Dem Aufbau eines mittelalterlichen Wandelalters folgend, entfaltet Grundig auf zwei Seitentafeln (Karneval, 1935; Chaos, 1938), einem Mittelteil (Vision, 1936) und einer Predella als symbolischem Ort der christlichen Totenruhe (Die Schlafenden, 1938) seine phantastische Vision einer untergehenden Zivilisation als dystopisches Gegenbild zum versprochenen Triumph des Nationalsozialismus. Es gibt dabei keine eindeutige Leserichtung, doch ist die Konzentration auf das Zentrum deutlich. Während sich Pablo Picasso bei seinem zeitgleich entstandenen Guernica auf das konkrete historische Ereignis der Zerstörung der baskischen Stadt durch spanisch-deutsche Luftangriffe bezieht und dieses zum Anlass für ein abstrahierendes Sinnbild gegen den Krieg nimmt, entspringt Grundigs Werk primär seiner Vorstellungskraft. Denn für eine derartige Zerstörung gab es zu Grundigs Lebzeiten in Dresden (noch) kein historisches Vorbild. In der Autobiografie liest man, dass er die Erinnerung an die Explosion des Dresdner Arsenals vom Dezember 1916 einfließen ließ. Diese Strategie erinnert an einen klassischen Topos des Diskurses über die Phantasie, nach welchem diese vergangene Bilder aus dem Gedächtnis zurückholen und mit anderen Eindrücken verbinden könne.
Grundig war in der Lage, Realität und Fiktion, Tatsachen und Visionen, miteinander zu verschmelzen und so subversiv und aufklärerisch zugleich zu wirken: sowohl in der Zeit des Widerstands, aber auch noch nach dem (zum Entstehungszeitpunkt ersehnten) Ende des Tausendjährigen Reiches. Deutlich sind die formalen Bezüge zu Otto Dix‘ Triptychon Der Krieg zu erkennen. Hier kann nur angedeutet werden, dass Grundig beachtliche Ähnlichkeiten mit Ludwig Meidners „apokalyptischen Landschaften“ der 1910er Jahre aufweist, denn auch Meidner zeigt das Splittern, Explodieren, Zusammenbrechen der modernen Metropolis im Krieg. In den Memoiren der Grundigs liest man, dass sie sich zudem von Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel dem Älteren beeinflussen ließen. Auch Francisco de Goya zählte zu den Inspirationsquellen. Mit diesem kunstgeschichtlichen „Gepäck“, einem umfassenden Studium an der Dresdner Akademie und einer rigorosen weltanschaulichen Position ging Grundig als schockierter Zeuge des Aufstiegs und der Durchsetzung der NS-Herrschaft daran, in der Illegalität – ihm war aufgrund einer „Mischehe“ mit der Jüdin Lea Grundig Berufsverbot erteilt worden – an seinen spezifischen Beitrag zum Widerstand heran. Viele avantgardistische Einflüsse sind zu erkennen, darunter die von der Pittura Metafisica und vom Surrealismus stammenden Straßen- und Platzsituationen und die an expressionistische Filme erinnerenden, perspektivisch stark verzerrten Häuserfluchten. Hinzu kommen die von Matthias Grünewalds Isenheimer Altar beeinflussten, grellen Farben sowie die Mischwesen des Karnevalumzugs, die Renaissance-Grotesken zum Vorbild haben. Hingegen erinnert das Portrtät von Lea auf der rechten Seitentafel an die strenge Schulung an der Dresdner Akademie.
In der Zusammenführung von heterogenen Stilen grenzte sich Grundig doppelt ab, sowohl von seiner neusachlichen Lehrergeneration, als auch von der „Blut-und-Boden-Malerei“ der Nationalsozialisten, die einem Naturalismus in der akademischen Tradition des späten 19. Jahrhunderts hofierten. Das inhaltliche und stilistische Gegenbild zu Grundigs Apokalypse ist meines Erachtens Adolf Zieglers neoklassizistisches Triptychon Die Vier Elemente, das sich aber ebenfalls der Pathosformel des Wandelalters bediente. Während Ziegler jedoch die vermeintlich klassisch-überzeitlichen Ideale des NS-Schönheitskultes um die „deutsche Frau“ mystifizierte und mit der Wahl des Triptychons das Thema erheblich mit Bedeutung auflud, verkehrt Grundig die Würdehaftigkeit des Wandelalters in eine Vision des Schreckens als Warnung vor dem drohenden Krieg, der letztlich zum Untergang führen würde. Ein Szenario, das auf die Höllenbilder von Bosch aus dem 15.Jahrhundert verweist, die Grundig im Kunsthistorischen Museum Wien studiert hatte.
Das Tausendjährige Reich stellt somit im Schaffen von Hans Grundig eine wichtige Zäsur da und zeugt von einer verstärkten Rezeption kunstgeschichtlich älterer Motive, die mit avantgardistischen Mitteln zu einem Bildganzen synthetisiert werden.

Wird fortgesetzt.

Oliver Sukrow, Jahrgang 1985, studierte Kunstgeschichte und Baltistik in Greifswald, Salzburg und Colchester und promovierte an der Universität Heidelberg zur Utopie in der bildenden Kunst und Architektur der DDR; er lebt in Mannheim.