von Erhard Weinholz
Zwischen den üblichen Krisen- und Katastrophenmeldungen war neulich im Berliner Fenster, dem U-Bahn-Fernsehen, eine Nachricht ganz anderer Art zu lesen: Kaninchen ausgesetzt (zu Ostern). O weh, das arme, kleine, kuschlige Kaninchen, schnuff schnuff schnuff, ausgesetzt in die böse kalte Welt! Die Träne quillt … Dabei könnte man die Sache doch auch als Freilassung deuten. Der Rühr-Effekt würde dann allerdings entfallen. Und was hat es mit diesem zu Ostern auf sich? Wäre die Geschichte zwischen Weihnachten und Neujahr geschehen, sie hätte dieses Boulevardblatt – aus einem solchen stammte die Meldung nämlich – wahrscheinlich nicht für’n Sechser interessiert. Obwohl es ein Kaninchen im Winter doch viel schwerer als im Frühjahr hat, aus eigener Kraft zu überleben. Alles nur Heuchelei also, wie man sieht.
Über jene Ausgesetzten, die wirklich Mitleid verdienen, verliert man in diesen Blättern dagegen kein Wort. Über die Topfpflanzen zum Beispiel, die mit trockenem Wurzelballen und hängenden Blättern an Straßenrändern oder in dunklen Winkeln, auf Fensterbrüstungen und gelegentlich sogar in Bahnhöfen zu finden sind. Gerade letzte Woche habe ich so eine Pflanze im U-Bahnhof Samariterstraße unter einer Bank entdeckt. Dank meines fleißigen Gießens hat sie sich rasch erholt. Aber was braucht sie sonst noch? Viel Sonne oder lieber Schatten? Im Winter einen kühlen Ort vielleicht? Zerreibt man eines ihrer Blätter zwischen den Fingern, riecht es nach Lavendel. Aber ob es wirklich Lavendel ist, weiß ich nicht, ich bin ja kein Fachmann. Es müsste, so habe ich dann gedacht, Herbarien geben, Pflanzenherbergen, wo ein jeder solche Funde abgeben kann und wo man auch – gegen geringe Gebühr – Urlauberpflanzen betreut. Ein promovierter Biologe lobt, was man da angebracht hat: Na das ist ja was ganz Seltenes heutzutage – eine Zimmerlinde, Kapländische Zimmerlinde, Sparmannia africana. Und vermerkt für seine Mitarbeiter: Viel gießen. Heller Standort bevorzugt. In einer großen alten Fabrikhalle stehen sie alle Topf an Topf und werden gewässert und genährt. Jeden Mittwoch pflanzenärztliche Sprechstunde. In solch einer Einrichtung zu arbeiten müsste, wie mir scheint, ein wahres Vergnügen sein.
Noch wichtiger wären solche Herbergen oder Heime aber für die liegengelassenen oder gar weggeworfenen Puppen, Teddys und Plüschtiere. Da sitzen sie nun, von mitleidigen Seelen abgegeben, im Empfangsraum – der durchnässte und erschöpfte Bär, die Puppe in zerrissenen, verschmutzten Kleidern, der zerzauste einarmige Affe – und hoffen auf Hilfe. Der Affe ist am Verzweifeln: Nie mehr diese schönen Sprünge von der Lampe zum Schrank, vom Schrank zum Gummibaum. Vielleicht wird er gar depressiv? Auch die Puppe hängt trüben Gedanken nach: Wahrscheinlich hat sie mich nie geliebt, jedenfalls nicht so, wie ich sie geliebt habe, meine fröhliche kleine Freundin. Aber das ist ja auch kein Wunder: Ich habe sie gelangweilt mit meiner Oberflächlichkeit, meinem dummen Puppengeplapper, meiner Willenlosigkeit. Zu allem habe ich Ja gesagt. Als ihr Bruder mich ausgezogen hat, habe ich gelächelt, statt ihm mit dem Finger zu drohen. Oder ihm gar auf die Finger zu hauen. Und selbst wenn ich tagelang in der Ecke liegen musste, nie habe ich gesagt: Es ist aus. Ich war ja so naiv, so unerfahren … Und der Bär? Er denkt, wie es nun einmal Bärenart ist, die meiste Zeit überhaupt nichts, starrt nur missmutig vor sich hin.
Mit materieller Versorgung allein ist es da nicht getan, die Psychotherapeuten haben viel zu tun in solchen Heimen. Manche der Eingelieferten brauchen Monate, bis sie ihre Erlebnisse verarbeitet haben. Leider ist auch Missbrauch zu vermelden, zur klammheimlichen Freude der schon erwähnten Boulevardpresse: Heimbetreiber ließ die Puppen tanzen. Und zwar gegen Entgelt bei Junggesellenabschieden, Herrentagsausflügen und ähnlich zwielichtigen Anlässen. Die verängstigten Geschöpfe wagten es nicht, sich zur Wehr zu setzen – der üble Bursche hatte ihnen mit der Mülltonne gedroht. Irgendwann kam die Sache ans Licht, das Heim wurde geschlossen, der Betreiber vor Gericht gestellt und auch verurteilt, aber wie üblich auf Bewährung.
Es wäre sicherlich am besten, all diese Ausgesetzten würden über kurz oder lang ein neues Zuhause finden. Denn selbst der beste Biologe oder Psychotherapeut kann den Freund, die Freundin nicht ersetzen. In gute Hände abzugeben nannte man das früher. Ich befürchte aber: Für einen großen Teil der Insassen würde sich niemand wirklich interessieren. Es sind einfach zu viele inzwischen, ständig kommen neue hinzu. Wir können sie nicht alle lieben.
P. S.: Einige Gedanken der Puppe stammen aus Kurt Bartsch: zugluft. gedichte sprüche parodien, Aufbau Verlag, Berlin 1968, aus dem Zyklus Meine Puppe.
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