von Heerke Hummel
Eigentlich weiß es jeder: Die Welt, in der wir heute leben, ist längst nicht mehr die, die wir Älteren vor etwa fünfzig Jahren erlebten, geschweige denn wie sie sich vor hundert Jahren darstellte. Nun deutet sich wieder ein Umbruch an. Worum es geht, machte unlängst die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff deutlich. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. März 2016 erklärte sie nicht nur, „wie wir Sklaven von Google wurden“. Sie machte auch deutlich, wohin die Reise im Zug des 21. Jahrhunderts ihrer Meinung nach zu gehen droht.
Für manchen mag es neu sein, dass Google nicht immer eine Gewinn bringende Unternehmung war. S. Z. erklärt anschaulich, wie es kam, dass aus einer hoch kreativen Unternehmung ein hoch profitables Unternehmen, ein Gigant unter den Wirtschaftsriesen wurde: Google erfand ein Produkt, dessen „Rohstoff“ kostenlos in Gestalt anfallender Daten zum Suchverhalten der Nutzer der Suchmaschine entstand. Diese Datensammlungen wurden genutzt, um die eigene Suchmaschine durch einen ständigen Lernprozess zu verbessern. Dabei wurden in Wechselwirkung mit der Werbeindustrie erstaunliche analytische Fähigkeiten zur Verhaltensvorhersage entwickelt. Shoshana Zuboff sieht darin die Gefahr möglicher Manipulierbarkeit des menschlichen Verhaltens. Beispielsweise führt sie dem Leser vor Augen, dass durch den Zugang zu Daten über den Echtzeitfluss unseres täglichen Lebens etwa im selbst fahrenden Auto nicht nur die Fahrtroute berechnet, sondern auch ein Ziel vorgeschlagen werden kann. Damit sieht sie die Prinzipien der Selbstbestimmung des Menschen in Frage gestellt, wie sie sich im Verlaufe von Jahrhunderten und Jahrtausenden herausgebildet haben. Nicht mehr Angebot und Nachfrage auf der Basis tatsächlicher Bedürfnisse könnten das ökonomische Geschehen bestimmen, sondern gestaltete Märkte würden manipulierten Bedürfnissen entsprechen.
Sehen wir uns nicht schon heute weitgehend in einer solchen Situation? Massenkonsum hat Gruppenzwänge erzeugt, und Gruppenzwänge haben Massenkonsum befördert. Auf der Strecke geblieben sind dabei die soziale, die ökonomische und die ökologische Vernunft. Auch die politische, weil die Politik nicht mehr versteht, was da in der Wirtschaft eigentlich vor sich geht, und sich darum dem Lobbyismus ergeben muss, anstatt die Wirtschaft zu steuern. Die menschliche Gesellschaft als ganze hat sich bereits seit langem zum Sklaven gemacht – nicht nur von Google, sondern eines Prinzips, das da heißt: Kapitalverwertung statt Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse als Ziel der Produktion, schrankenlose Ausbeutung unseres Planeten bis zum Verlust seiner Bewohnbarkeit anstelle sinnvoller Bewirtschaftung der Mutter Erde.
Und das soll erst der Anfang eines neuen ökonomischen Monsters sein? Shoshana Zuboff nennt es Überwachungskapitalismus. Und sie charakterisiert ihn als eine gänzlich neue Art von Kapitalismus, als eine systemisch zusammenhängende neue Logik der Akkumulation. Deren Grundlage sei „eine beispiellose Form von Markt, die im rechtsfreien Raum wurzelt“. Die schlimmsten Nachteile dieser erneuten Mutation des Kapitalismus – der einst Profite aus Produkten und Dienstleistungen schlug, dann aus Spekulation und nun in seiner neuesten Form aus Überwachung – lassen sich nach Ansicht der Wissenschaftlerin nur schwer erkennen und theoretisch erfassen. Denn alles laufe mit extremer Geschwindigkeit ab und werde durch teure, nicht zu entschlüsselnde Rechenoperationen sowie geheime betriebliche Praktiken verschleiert. Hinzu käme eine rhetorisch meisterhafte Irreführung.
Das klingt nach scharfer Kritik. S. Z. denkt sogar an Widerstand und Aufstand: Nur „eine soziale Revolte, die den mit der Enteignung des Verhaltens verbundenen Praktiken die kollektive Zustimmung entzieht, wird dem Überwachungskapitalismus die Grundlage entziehen können“, schreibt sie und zeigt damit großes Engagement. Doch sie möchte – zurück! Wir müssten herausfinden, heißt es weiter, „wie wir in die spezifischen Mechanismen der Erzielung von Überwachungsprofiten eingreifen und dabei der liberalen Ordnung im kapitalistischen Projekt (Hervorhebung – H. H.) des 21. Jahrhunderts wieder den Vorrang sichern können.“ Und wie stellt sie sich das vor? Sie argumentiert so: Mit dem Vorwurf der Monopolbildung gegen Google oder andere Überwachungskapitalisten vorzugehen hieße, ein Problem des 21. Jahrhunderts mit einer Lösung des 20. Jahrhunderts anzugehen. Darum bräuchten wir „neuartige Eingriffe, die zentrale Faktoren dieses Modells (des Überwachungskapitalismus – H. H.) behindern, verbieten oder einer Regulierung unterwerfen“.
Das klingt überzeugend. Doch man bedenke, dass die Geschichte massenhaft Beispiele dafür liefert, dass bahnbrechende Neuerungen vehement bekämpft wurden aus Angst vor ihren Folgen. Bei Beginn des Eisenbahnwesens etwa befürchteten Skeptiker, die vorbeifahrenden, dampfenden und fauchenden Ungeheuer könnten das Vieh auf den Weiden ausbrechen lassen; den Fahrgästen müsste übel werden bei Geschwindigkeiten um die dreißig Meilen pro Stunde.
Abgesehen davon, dass Verbote nur selten zu dauerhaftem Erfolg führen, ist hier zu fragen, welche Ursachen denn die Datenanalyse so problematisch werden lassen und welche Bedeutung vielleicht die Verhaltensvorhersage für eine wirklich demokratisch organisierte Gesellschaft haben könnte. Die von Shoshana Zuboff gesehenen Gefahren der Datenanalyse von „Überwachungskapitalisten“ resultieren doch gerade aus der spezifisch kapitalistischen Art und Weise der Produktion gesellschaftlichen Reichtums, also auch der Erzeugung und des Gebrauchs von Verhaltensvorhersagen. Aber gerade dieses „kapitalistische Projekt“ möchte die amerikanische Professorin für Betriebswirtschaftslehre für nochmals hundert Jahre gesichert sehen. Das würde dann bedeuten: Nochmals hundert Jahre kapitalistischer Konkurrenzkampf, Kampf um Sein oder Nichtsein, Zwang zu unbegrenztem Wachstum, Zerstörung unserer Umwelt wie auch des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch noch tiefere Spaltung infolge von noch weniger Solidarität. Kampf ums Dasein (hat diese Gesellschaft das Entwicklungsstadium der Wildheit wirklich schon verlassen?) gebiert die Angst vor dem Untergang und befördert die Gier, weil nur die Starken überleben. Damit wäre die eigentliche Gefahr für die Menschheit von heute benannt: Angst und Gier als Folgen des Wolfsgesetzes kapitalistischer Produktions- und Denkweise.
Und woher könnte die Befreiung, die Beseitigung des von Shoshana Zuboff beschriebenen Übels kommen? Die Lösung müsste wohl heißen: Ersetzung des kapitalistischen Konkurrenzkampfes durch das Prinzip der gesellschaftlichen Solidarität, bestmögliche Versorgung aller durch Kooperation anstelle privater Gewinnmaximierung auf einem „wilden“ Markt als Ziel der Produktion.
Mehrfach schon habe ich meine Ansicht geäußert und begründet, dass die ökonomische Basis unserer Gesellschaft ihrem Wesen nach spätestens seit 1971 durch die Beendigung der Golddeckung des Geldes einen qualitativen Wandel erfahren hat. Ihre Erklärung bedarf einer Weiterentwicklung, eines Weiterdenkens der ökonomischen Analyse von Karl Marx im „Kapital“. Das heutige Geld als Nachweis oder Ausweis eines geleisteten Beitrags an normaler gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit zur Schaffung des Reichtums der Gesellschaft einerseits und Ausdruck des Anspruchs auf entsprechende Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum andererseits ist zu einem gesellschaftlichen Instrument geworden. Seine Schaffung, Entstehung, Ausgabe und die Art und Weise seiner Nutzung kann nicht Privatsache ökonomisch agierender Individuen oder Vereinigungen sein. Es bedarf gesellschaftlicher Regeln für seine Nutzung und seinen Einsatz, damit das gesellschaftliche Leben, vor allem die gesellschaftliche Produktion in ihrem Fluss als Reproduktion einigermaßen stabil abläuft.
In seiner beschriebenen, heutigen Art ist das Geld auch Instrument der Verteilung. Und diese gilt es so zu gestalten, dass nicht nur ein Anreiz zur Schaffung des Reichtums der Gesellschaft gegeben wird, sondern auch die Möglichkeit und die Voraussetzung für dessen kontinuierlichen Verbrauch. Die Gesellschaft als ganze kann Überschüsse an Gütern in ihrer Naturalform nicht beliebig lange aufbewahren, also sparen, weil sie verderblich sind oder technisch veralten. Eine Einkommensverteilung, welche die Gesellschaft immer mehr in Arm und Reich spaltet, missachtet diese ökonomische Grundwahrheit. Und sie ist Ausdruck einer ungeheuren Zukunftsangst, Gier und auch Dummheit derjenigen, die sich (auf Kosten einer großen Mehrheit) bereichern. Für nichts von all dem sind sie zu beneiden.
Was gilt es also zu verändern? Unsere Rechtsordnung bezüglich der Wirtschaft! Denn es kann kein Menschenrecht auf unbegrenzten Reichtum geben. Unser Planet darf nicht ökonomisch zugrundegerichtet und in die gesellschaftliche Katastrophe geführt werden. Dazu muss unser Rechtssystem notwendige Grenzen setzen – auch was die Einkommens- und Vermögensbildung betrifft. Denn die bis 1971 durch den Goldstandard des Geldes gesetzten Grenzen sind verlorengegangen, haben sich aufgelöst in einem rund hundertjährigen Transformationsprozess der Wirtschaft, dessen formaler Abschluss der Bruch des Abkommens von Bretton Woods war. Wenn heute Vorstände von Banken und Konzernen wie VW, nachdem sie mit teils krimineller Energie Milliardenschäden angerichtet und die Wirtschaft an den Rand der Katastrophe geführt haben, nicht nur nicht zur Verantwortung gezogen werden, sondern ihre geradezu absurden, von ihnen nicht mehr zu verbrauchenden Einkommen weiterhin beziehen, ja sogar weiter erhöhen können, ist die Demokratie massiv in Frage gestellt. (Manche sprechen schon von einem neuen, Finanzfeudalismus.) Und wenn dies wiederum keinen nennenswerten Widerstand bewirkt, so sind wir offenbar von der kollektiven Angst befallen, die weit verbreitete und wohl zur Normalität gewordene Gier zügeln zu müssen.
Woher kommt diese Angst? Das tiefere Wesen unserer wirtschaftlichen Existenzbedingungen ist nicht begriffen worden. Wir sind Sklaven infolge ökonomischen Unverstands und politischer Feigheit. Wir fürchten sogar die eigenen ökonomischen Daten und Verhaltensvorhersagen. Bei realer demokratischer Kontrolle ließe sich gerade mit denen die ökonomisch-ökologische Entwicklung in einem breiten gesellschaftlichen Konsens steuern anstatt sie dem Wildwuchs im Chaos der jetzigen Konkurrenzkampfgesellschaft zu überlassen.
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