von Henry-Martin Klemt
DAS JAHRTAUSEND BEGANN
an einem Tag, als rings die Vaterländer
nach Menschenrechten in der fremden
Erde bombten. Die Steinkadaver von einst
Guernica, Dresden, Hiroshima waren
abgefallen von meiner Zeit, zur
trocknen Lehre geschrumpft: Dieses war
und wiederholt sich nicht: Schutthaufen,
Eisenloren und die Trümmerfrauen
in eine Leica lächelnd, die der Krüppel hält.
Bis ich zum ersten Mal die Trümmer
von Krankenhäusern sah, wie dem,
worin ich fieberte, von Schulen, jener
gleich, die der Sohn besuchte, Kindergärten
wie dem, in den die Tochter ging, und von
Theatern, ähnlich dem, das meine Frau
geliebt, so lang es spielte mit den Rätseln
der Welt. Jetzt lagen bunte Stücken Tuchs
auf Särgen wieder, weil das Gras so schnell
nicht über all den Toten wachsen kann.
Ein abgerissener Kopf rollte langsam
aus einem Spielfilm in die Tagesschau.
Das Versehen wollte mir nicht in den Schädel:
Wörter wandelten sich und verschleimten,
bis sie den Durchschlupf fanden aus jeder
Raserei in jedes Verharren. Zum Angebot
der Woche gab es den Ekel gratis. Was
wir bezahlten, bekamen wir nicht.
Was wir erhielten, war unseren Kindern
gestohlen, die sich noch in Freiheit wähnten.
Die Wunden der Erde schlossen sich
über uns, wo sie nur konnten, und doch
vervielfachte sich unsre Zahl. Das Universum
weitete sich. Ballonen und Aeroplanen
folgten Raketen. Ein Fleckchen Grün
blieb dennoch Liebenden das Herz der Welt.
Wir schauten nach oben und suchten
in der Wölbung des Himmels zwischen
den Sternen das schöne Versteck
des Glückes am Ende der Angst.
Ich glaube nicht an die tausendjährige
Demokratie. Meine Gewissheit vom
Währen der Reiche zerstob wie die
Stadt der Zukunft auf dem vergilbten
Papier. Doch auch nach diesem
Jahrtausend werden wir Kinder
zeugen wie heute, einander
umarmen und küssen wie jetzt und
wie am Ausgang einer Höhle stehen.
Aus: „wurzelland.wo“, BoD, 2016.
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