von Angelika Leitzke
Nicht jeder liebt seinen Geburtsort. Händel wanderte aus der Hallenser Enge in die Welt hinaus, Mozart suchte Salzburg durch Reisen zu entkommen, und mit seiner sächsischen Heimatstadt Zwickau stand Max Pechstein auf keinem guten Fuß. 1881 hier als Spross einer kinderreichen Handwerkerfamilie geboren, erlebte der spätere Erfolgskünstler schon früh die sozialen Spannungen zwischen Arm und Reich: Entbehrungsreich waren nicht nur seine Kindheit, sondern auch seine Zwickauer Lehrzeit als Dekorationsmaler, als ihn der Meister linkte. 1900 kam er zum Studium nach Dresden. Noch Jahrzehnte später empörte es ihn, dass Zwickau ihm einen finanziellen Zuschuss für ein Stipendium verweigert hatte, das die dortige Kunstgewerbeschule für den Hochbegabten vorgesehen hatte. Gefördert würden nur Studierende der Universität, ließ Zwickau damals wissen. So viel Unbill erzeugt nicht gerade Heimatliebe. 1906 schloss sich Pechstein, Meisterschüler von Otto Gussmann an der Dresdner Kunstakademie, der frisch gegründeten Künstlergruppe „Die Brücke“ an – die Architekturstudenten Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff wollten sich „Arm- und Lebensfreiheit“ von akademischem Muff und Spießbürgerlichkeit verschaffen und schrieben sich ein „Zurück zur Natur“ auf die Fahnen. Gebadet wurde aber nicht im Zwickauer Schwanenteich, sondern in den Moritzburger Seen, später in der Ostsee.
Dank des Erhalts des Sächsischen Staatspreises konnte der ehrgeizige 26-Jährige Italien bereisen, danach lernte er in Paris die „Jungen Wilden“ von Matisse kennen. 1908 siedelte Pechstein in die boomende Reichshauptstadt Berlin über und profitierte als shooting star auf diversen Ausstellungsforen vom einem neu sich entwickelnden Marktsegment, auf dem die Schöne Muse zum Wirtschaftsfaktor wurde.
Der Verkauf einer 1909 bei der Berliner Secession ausgestellten Landschaft an den Industriellen Walther Rathenau ermöglichte Pechstein seinen ersten Aufenthalt auf der touristisch noch unberührten Kurischen Nehrung. Seine stete Suche nach dem unverfälschten Paradies, nach Ruhe und Abgeschiedenheit, führte ihn auch 1913/14 nicht heim nach Zwickau, sondern bis auf die Palau-Inseln, deren exotische Eindrücke er erst später verarbeitete: Der Erste Weltkrieg zwang ihn als Soldat an die Westfront. 1918 wurde er Mitbegründer der Berliner Novembergruppe, 1922 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste in Berlin, die ihn zum Professor ernannte. Die Ehrungen häuften sich. In den zwanziger Jahren unternahm der Künstlerstar der Weimarer Republik Reisen nach Italien, Südfrankreich und in die Schweiz, seine Utopie vom ursprünglichen Leben suchte er auch an der Ostseeküste zu realisieren, nicht aber in Zwickau.
Als 1925 der junge Dresdner Kunsthistoriker Hildebrandt Gurlitt (1895-1956) zum ersten hauptamtlichen Direktor des 1914 eingeweihten König-Albert-Museum in Zwickau, heute Städtische Kunstsammlungen, ernannt wurde, gratulierte ihm Pechstein: Froh sei er, dass nun endlich ein „Fachmann“ käme, der „aus einer Wüste eine Oase“ machen könnte. Pechstein trug es seiner Vaterstadt nach, dass sie es bis jetzt versäumt hatte, ihn entsprechend zu würdigen. Doch schon 1930 sorgte man in Zwickau, wo 1921 die erste NSDAP-Ortsgruppe in Sachsen gegründet worden war, dafür, dass Gurlitt wegen seiner „arischen“ Herkunft und als unliebsamer Museumsreformer und Protektor der zeitgenössischen Moderne entlassen wurde. 1937 konfiszierten die Nazis hier Werke der „entarteten“ Kunst, darunter Arbeiten von Pechstein, Klee, Nolde, Barlach und Schmidt-Rottluff, die auf Gurlitts Konto gingen. Verschollen ist bis heute Max Pechsteins Gemälde „Frau in Blau am Tisch“ von 1912, das Gurlitt für 700 Mark bei seinem Cousin, dem Berliner Kunsthändler Wolfgang Gurlitt, Pechsteins langjährigem Galeristen, angekauft hatte.
1925 initiierte Gurlitt die erste Pechstein-Ausstellung der Stadt. Wohl damals ein Wagnis, denn die zwiespältige Resonanz bei den konventionell eingestellten Einheimischen, die in Pechstein offenbar einen kulturbolschewistischen Künstlerschreck sahen, von dem man sich zu distanzieren hatte, förderte nicht gerade Pechsteins Affinität zu Zwickau. Umgekehrt kehrte er nur dann hier ein, wenn er seine Verwandtschaft besuchte. Die NS-Zeit verscheuchte ihn endgültig aus Zwickau. Er verbrachte sie, aus der Preußischen Akademie der Künste entlassen, mit Ausstellungsverbot belegt und als „entartet“ diffamiert, zurückgezogen in Pommern, wo er zuletzt von kunstgewerblichen Arbeiten lebte. In Zwickau funktionierte man inzwischen den Kuppeltrakt des Museums zum nationalsozialistischen Kunstmausoleum um.
Zwickau erinnerte sich seiner erst Ende 1945, als eine Straße am Ort nach ihm umbenannt wurde. 1947 wurde er hier mit der Vergabe der Ehrenbürgerwürde und einer Ausstellung offiziell rehabilitiert, der Max-Pechstein-Förderpreis für junge Künstler ins Leben gerufen. Werke und Dokumente des Expressionisten, der ab 1949 eine Professur an der Hochschule der bildenden Künste in West-Berlin hielt und mit Karl Hofer gegen die vordringende Abstraktion antrat, sammelte das Zwickauer Museum nun gezielt nach dem Vorbild Hildebrandt Gurlitts.
Im April 2014 wurde nun ein Max-Pechstein-Museum in den Städtischen Kunstsammlungen, die auf europäische und sächsische Kunst vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart fokussiert sind, eröffnet – knapp 60 Jahre nach dem Tod des Künstlers, der noch 1955 Teilnehmer der ersten „documenta“ in Kassel wurde. Zu sehen sind Gemälde, Skulpturen und kunstgewerbliche Arbeiten aus Pechsteins gesamter Schaffenszeit, darunter auch die berühmten Palau-Bilder. Die Eröffnung eines eigenen Musentempels hätte den Meister vielleicht wieder mit seiner Geburtsstätte versöhnt, in der nach 1949 die Maxime des Sozialistischen Realismus galt. Dennoch mag die Entdeckung des „Schwabinger Kunstfundes“ Anfang 2012 bei Cornelius Gurlitt, dem im Mai 2014 verstorbenen Sohn Hildebrandt Gurlitts, einen Schatten auf den frühen Pechstein-Förderer geworfen haben, der später in den NS-Kunsthandel verstrickt war. Ebenso, dass im August 2014 die rechtspopulistische fremdenfeindliche Partei „Alternative für Deutschland“ in den sächsischen Landtag einzog. Möglicherweise wird sie Pechsteins Palau-Bilder als Zeugnis einer exotischen Un-Kultur konfiszieren, gehörte doch der pazifische Inselstaat nur von 1899 bis 1914 als Kolonie zum Deutschen Reich.
Zumindest ist Zwickau durch das Pechstein-Museum nun nicht nur als Wiege deutscher Automobilindustrie und Robert Schumanns bekannt, der hier 1810 geboren wurde. Bei seinen Wanderungen ins Erzgebirge gewann der Komponist Eindrücke, die er später in Leipzig vermisste: „Ich sehne mich so aus recht vollem Herzen in meine stillere Heimat zurück, wo ich geboren bin und glückliche Tage in der Natur gelebt habe. Die Natur, wo finde ich sie hier? Alles durch Kunst verschnörkelt: kein Tal, kein Berg, kein Wald, wo ich so recht meinen Gedanken nachhängen könnte; kein Ort, wo ich allein sein kann, als in der verriegelten Stube, wo es unten ewig lärmt und spektakelt.“ Manchen zieht es eben doch in die Heimat zurück. Für Pechstein jedoch wird wohl Zwickau auch posthum nie zur „Oase“.
Schlagwörter: Angelika Leitzke, Expressionismus, Hildebrandt Gurlitt, Max Pechstein, Zwickau