von Erhard Weinholz
Man reist nicht ohne Grund und Absicht. Doch weshalb ich unlängst von Berlin aus die kurze Reise unternommen habe, von der hier die Rede sein wird, eine Tagesfahrt nach Wiesenburg/Mark, ist nicht so ohne weiteres zu sagen. Meine Eltern, die dort fünfzig Jahre zuhause waren, leben nicht mehr. Sonst jemanden zu besuchen hatte ich nicht vor, ich wüsste gar nicht wen, und die Schönheiten des Parks, der wichtigsten Sehenswürdigkeit, zeigen sich im Winter – was man heute so Winter nennt – am wenigsten.
Wiesenburg – ein Bekannter, den man aus alter Freundschaft gelegentlich besucht? Vielleicht. Man lässt sich jetzt, obwohl die Fahrpreise sich fast verzehnfacht haben, auch eher auf so ein Unternehmen ein als zu DDR-Zeiten. Damals und bis in die frühen neunziger Jahre hinein gab es von hier aus nur zwei Vormittagsverbindungen. Die erste, ich zitiere aus dem Fahrplan für die Jahre 1987/88: 5.19 Uhr ab Karlshorst, Umstieg in Bergholz, dort gut zwanzig Minuten Aufenthalt – egal, wann und in welche Richtung man fuhr, immer hatte man dort diesen Aufenthalt –, in Belzig weitere fünfzig Minuten Aufenthalt, so dass man in der Bahnhofsmitropa in aller Ruhe sein Frühstück nachholen konnte, eine Bockwurst, drei Kännchen Kaffee, und 8.34 Uhr war man endlich in Wiesenburg. Zweite Möglichkeit: Abfahrt 9.19 Uhr, Ankunft 11.53 Uhr. Das Reisen war, so scheint es, damals unerwünscht.
Heute wird die Strecke stündlich bedient, man fährt ab Berlin-Alexanderplatz siebenundsiebzig Minuten. Man fährt durch Wälder, Wiesen, weites Feld und immer wieder vorbei an verfallenden Bahnhofsbauten. Kurz vor halb elf lange ich bei mäßigem Sonnenschein am Wiesenburger Bahnhof an. Gut erhalten ist der rote Backsteinbau, hier scheint alles noch beim alten zu sein: Rechts die Räume der Bahn, links die Gastwirtschaft, in der Mitte der Durchgang zum Warteraum und ins Freie. Tatsächlich gehört das Gebäude einer Genossenschaft, die es für teures Geld gekauft und mit viel Mühe instand gesetzt hat; im Schankraum betreibt sie seit drei Jahren das Café Flämingperle, aber das öffnet erst am Mittag. Vor gut einem Jahr wurde hier eine Wiesenburger Erklärung zur Rettung der märkischen Bahnhofsbauten verabschiedet; viel gebracht zu haben scheint es nicht.
Gut zwanzig Minuten braucht man zu Fuß vom Bahnhof bis zum Ort. Ein Stück laufe ich neben der B 107 her, die nahebei die Gleise kreuzt, links Gewerbeflächen, zur Rechten das Sägewerksgelände, auf dem ein kleiner Wald heranwächst, dahinter die einstige Tankstelle, auch sie schon lange stillgelegt. Die Straße berührt nun den Südwestzipfel des Parks – lichter Kiefernwald, dazwischen große Buchen; einst führte hier ein Pfad hangaufwärts, inzwischen ist er zugewachsen. Mühsam zwänge ich mich durch Unterholz hinan, alte leere Schnapsflaschen weisen mir den Weg.
Nahe beim Ort gesellt sich mir ein wissbegieriger Begleiter zu – oder ist es eine Begleiterin? Nun lohnt das Erzählen: Da hinten, linker Hand, die Aufschüttungen, das sollte mal ein Schwimmbad werden. War so um 1960. Im Schuh-Konsum stand schon ein Pappmodell davon. Auch mein Vater hat als freiwilliger Helfer mitgeschippt. Aber der Träger, das NAW, das Nationale Aufbauwerk, hatte nicht genug Material. Jetzt, ebenfalls zur Linken, mit großem Schild „Zu vermieten“, das einstige Landambulatorium, eine Art Dorfpoliklinik. In dem Zweigeschosser mit der Garage unten, da wohnte Herr S. mit Familie, so’n ganz normaler, biederer Kraftfahrer. Und dann haben wir, das muss so Mitte der 1960er gewesen sein, per Zufall erfahren, dass er früher als Westkurier des ZK irgendwelche Geheimaufträge erledigt hat. Noch ein NAW-Bau, eine Plakette wies früher darauf hin, aber nun ist sie verschwunden.
Unser Weg führt zurück zur B107; ein Stück vor uns der Hauptschandfleck Wiesenburgs, die Ruine der einstigen Schloss- und späteren Flämingbrauerei. Vor langen Jahren habe ich dort manches Mal mit zwei Freunden Karten gespielt, mit Joachim, dem Förstersohn, und Herwig, der aus dem Westen kam und hier bei seiner Großmutter die Ferien verbrachte. Wir saßen in einem Nebenraum auf alten Stühlen an einem Küchentisch, von weitem waren Brausen, Zischen und Flaschenklirren zu hören, es roch süßherb nach Maische, und wir spielten und spielten, mit einer Ausdauer, wie man sie in solchen Dingen wohl nur als Kind aufbringt.
Noch ein paar Minuten, und ich bin am Goetheplatz. Dicht beieinander Schloss, Amtsverwaltung, ein alter Bau mit Gemeinderäumen, die Turnhalle, jetzt Kunsthalle, wo aber derzeit nichts gezeigt wird, die Sparkassenfiliale und Edeka. In den neunziger Jahren ist viel Geld von Bund und Land hierher geflossen, die Wiesenburger Ortsentwicklung galt als Modellvorhaben. Aber davon will ich jetzt nicht reden. Im Laden kaufe ich ein paar Kleinigkeiten; unter den Kunden und an der Kasse kein einziges mir bekanntes Gesicht. Nicht anders auf der Straße. Vor ein paar Jahren bin ich hier noch Herrn J. begegnet, dem intimen Kenner der neueren Ortsgeschichte. Da drüben, sagte er damals und wies auf die schöne alte Villa, die jetzt leersteht, das hat sich ja der N. N. bauen lassen, der Sägewerksbesitzer. Und siehste da die weiße Farbe neben der Tür? Was denkste, was die zu bedeuten hat? 45 war das die sowjetische Kommandantur. Und die haben ihre Bauten immer mit so’ner Kalkfarbe angestrichen. An anderen Stellen ist sie längst weg, aber da war doch bis vor kurzem diese Holzveranda, also hat sich das Weiß gehalten. Solcher Art waren die Auskünfte, die man von Herrn J. bekommen konnte.
Gleich neben der Villa Hauptschandfleck No. 2: Eine Kaufhalle, die in ihrer Größe überhaupt nicht zur Bebauung ringsum passt. Früher stand hier ein Hotel mit Restaurantbetrieb: Hotel Friedrich Paul Fernsprecher Amt Wiesenburg No. 6 Franz. Billard. 15 Fremdenzimmer Elektrisches Licht in allen Räumen. So warb man im Jahre 1908. Unter Leitung der HO kam alles arg herunter, die Erben erhielten nach 1990 Haus und Grundstück zurück, konnten sie aber nicht zum gewünschten Preis verkaufen, der Bau wurde abgerissen. Gegenüber sehe ich jetzt doch noch jemanden, den ich kenne: Herrn Sch., etwa meines Alters; seine Lieblingsbeschäftigungen waren und sind vielleicht auch nach wie vor das Rauchen, das Saufen und das Randalieren. Es scheint ihm aber nicht weiter geschadet zu haben – er steht am offenen Fenster und schaut mit gleichgültigem Gesicht auf die wenig belebte Straße.
Ein paar Schritte weiter, im Konsum, jetzt natürlich ebenfalls privat, gibt es einen Mittagstisch: Heute Steak mit Kartoffeln, Soße und Rohkostsalat oder Schweinebraten, dito, aber mit Wachsbohnen, beides für 3,20 Euro. Aha … und was ist das da? Das sind doch die Bohnen! Gut, dann nehme ich das Steak. Das Fleisch war gar nicht mal so schlecht, der Rest … na ja. Ich habe jedoch nicht gemeckert oder, wie man früher sagte, räsoniert. Nicht einmal innerlich. Und war auch nicht der einzige Essenskunde. Das alles spricht für die Sparsamkeit, Geduld und Leidensfähigkeit des Volkes im Osten. Es muss schon viel geschehen, dass es, wie im Herbst 1989, auf die Straße geht.
Wo alles so nahe beieinander liegt, ist es auch zum Friedhof nicht weit. Ihn besuche ich zuletzt. Hier nun, nur hier, sind mir nicht wenige bekannt, persönlich oder wenigstens vom Hörensagen. Meine Eltern sind hier begraben, mein Klassenkamerad Hartmut, mit siebzehn tödlich verunglückt, ein Stück links davon Herr S., der einstige Westkurier, und an der Friedhofsmauer ist auf großem Stein zu lesen Fritz Paul Kaufmann und Hotelier 1867 – 1933. Ein Dutzend Namen auf einem Grabstein, alle Todesdaten vom April 1945: Opfer eines Bombenangriffs. Von fünf polnischen Zwangsarbeitern sind nicht einmal die Namen überliefert.
Auf dem Rückweg zum Bahnhof laufe ich eine Weile am Südostrand des Dorfes entlang. Eigentlich ist es ein Umweg. Man blickt von hier den Fläming abwärts, über weite Feldmark, auf der vereinzelt große alte Eichen stehen. Alles ist gut überschaubar. Fast jedes Mal, wenn ich Wiesenburg besuche, kehre ich auch dorthin zurück.
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