von Arno Widmann
Roger Willemsen ist tot. Ich bin traurig. Nicht so traurig, wie es sich gehört, denn wir wussten ja alle, dass er bald sterben würde. Er hatte seinen Krebs veröffentlicht. Ich bin wütend. Über den Tod. Denn Willemsen war mir wichtig. Ich bin auch wütend über mich, denn ich wollte ihm unbedingt noch in dieser Zeitung schreiben – in Form einer Rezension seines neuesten Buches –, wie sehr ich ihn bewundere. Viel zu schamhaft und viel zu verstohlen. Ich habe ihn schon bewundert, als ich nichts als seine Artikel las.
Dann sah ich ihn im Fernsehen mit all den Schön- und Berühmtheiten. Er sah so verdammt gut aus. Das ist eine Hürde, die ich bei Männern nicht nehmen kann. Aber – dieses Aber sagt alles über die abgrundtiefe Dummheit meines Vorurteils – er stellte kluge Fragen. Er war bestens präpariert und er war dennoch immer auch ein wenig schüchtern. Nicht nur gegenüber den schönen Frauen, sondern auch gegenüber den klugen, den einflussreichen Männern. Er war dabei – fast immer – Demokrat und scherte sich nicht um gesellschaftlichen Rang und Reichtum.
Das hatte mit seiner Intelligenz zu tun. Er wusste, dass es sie in den unterschiedlichsten Formen gab. Er war einer der wenigen Intellektuellen, die begriffen hatten, dass ein Hochschulabschluss kein Ausweis von Intelligenz ist. Was wir Bildung nennen, hat herzlich wenig mit Intelligenz zu tun. Wer Jahrzehnte seines Lebens in Schulen und Hochschulen verbrachte, der ist dort ganz sicher nicht klüger geworden. Er hat einen Anpassungsprozess hinter sich, der alle seine spezifische Intelligenz abgeschliffen hat.
Roger Willemsen wusste das. Er wusste das nicht nur, sondern er lebte das. Er verließ die Universität und stürzte sich … ins Leben? Das weiß ich nicht. Wo immer er sich auch hingestürzt haben mag. Ich entdeckte ihn erst wieder in den Medien. Dort befragte er ich habe keine Ahnung mehr wie viele Leute. Ich hätte gerne gelernt von ihm. Aber ich war zu befangen. Zu sehr eingesponnen in meine eigenen kleinen Ängste. Wie die meisten von uns. Wir teilten mit ihm die Schüchternheit. Sie verließ ihn nie. Er aber war in der Lage, sie manchmal zu verlassen. Er trat gewissermaßen aus ihr hinaus. In kleinen Momenten.
Wer sich auf Youtube das Interview mit Helmut Markwort anschaut, der sieht einen sehr aufgeregten, gut präparierten Willemsen, der sich vorgenommen hat, Markwort auseinanderzunehmen. Das ist in fast jedem Satz zu merken. Ich fand das damals großartig. Heute ist es mir peinlich. Ich geniere mich ein klein wenig. Warum nimmt Willemsen die Sache und den Markwort nicht lässiger? Warum ist es ihm so schrecklich ernst mit dem?
Weil Willemsen ernst nahm, was ernst betrieben wurde. Jedenfalls hatte jeder, der seine Sache gut machte, erst einmal Pluspunkte bei Roger Willemsen. Das war sein Credo. Zyniker mochte er nicht. Dass jemand unter sein Niveau ging, um einen Geschmack zu bedienen, der nicht der seine war – dergleichen gab es nicht bei Roger Willemsen. Er machte keine Sendung, die er Scheiße fand, nur weil ihm die Einschaltquoten sagten: Die Menschen fressen Scheiße. Als er den Eindruck gewann, die Dinge könnten sich in diese Richtung entwickeln, sagte er Ciao.
Ich habe Roger Willemsen dafür bewundert. Dem Unbekannten fällt der Verzicht auf den Ruhm leicht. Ich bin sicher, hätte ich eine so erfolgreiche, so bekannte Sendung gehabt, ich hätte nicht die Kraft gehabt, sie aufzugeben. Ich hätte das ja nicht nur mir selbst, meiner Freundin, sondern auch meiner Mutter und meiner Bank erklären müssen. Willemsen hat das gekonnt. Ohne zu wissen, dass er ein Bestsellerautor werden würde. So wie er sich auch aus der Universität in ich weiß nicht wohin stürzte, so stürzte er sich aus dem Fernsehen ins Schreiben. Er wurde kein Schriftsteller. Vielleicht doch, aber er wurde kein Romancier. Er floh nicht aus dem Fernsehen in die Fiktion.
Roger Willemsen war schließlich aus der Fiktion ins Fernsehen geflohen. Von dort aus floh er in die Wirklichkeit. Es gehört viel Selbstbewusstsein dazu. Viel, viel mehr als man einem Schüchternen zutraut. Aber gerade die Kombination von beidem war Willemsens Stärke. Das Selbstbewusstsein erlaubte ihm den Gang in die Welt. Er traute sich, sich ihr entgegenzustellen. Er war einer, der bereit war, seinen Weg zu gehen. Auch wenn er nicht wusste, wohin er führte. Seine Schüchternheit sorgte dafür, dass er vor-, dass er umsichtig war. Roger Willemsen stürmte erst dann, wenn er gut trainiert hatte und er verstand sich wohl auch auf die Kunst des Abgebens.
Er ging überall hin, wo es weh tat. Weil er intelligent genug war zu wissen, dass es ohne Schmerz keine Erkenntnis gibt. Alles, was ich sage, weiß ich nicht, weil ich ihn kannte. Ich habe ihn nur einmal ein paar wenige Stunden lang gesprochen. Ich weiß das, weil ich seine Bücher gelesen, weil ich ihn beobachtet habe. Ich weiß also, dass ich nicht weiß. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass Selbstbewusstsein und Schüchternheit ausreichen, um Willemsens Unternehmungen zu erklären. Es gibt das Wort von der „theoretischen Neugierde“. Gemeint ist damit nicht eine Neugierde, die theoretisch bleibt, sondern eine, die praktisch werden möchte, um sich aufzuklären über die Theorien – man kann sie auch Vorurteile nennen –,die wir uns von der Welt machen. Das Beobachten ist theoretisch Neugierigen ein großes Vergnügen, aber sein Hauptspaß ist doch, es zu beziehen auf die grundsätzlichen Vorstellungen, die wir von der Welt haben. Es gibt da kein Vertun. Roger Willemsen war kein Reporter. Willemsen war jemand, der wissen wollte, wie die Dinge funktionieren. Er liebte die Empirie. Er hatte den Mut zu ihr. Wohl weil er sie brauchte. Weil irgendwann auf dem langen Marsch durch die von ihm besuchten Institutionen er verstanden hatte, dass kaum noch etwas stimmte von dem, was er damals mitbekommen hatte.
Im S. Fischer Verlag ist ein Buch erschienen „Der leidenschaftliche Zeitgenosse – Zum Werk von Roger Willemsen“ (520 Seiten, 24,99 Euro). Er muss – ich habe es erst bei diesem Buch gemerkt – ein guter Freund gewesen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle diese Freunde, Bewunderer, die zu diesem Band beigetragen haben, einander schätzen. Die Geigerin Isabelle Faust zum Beispiel verträgt sie sich mit Edelgard Bulmahn? Können Gerhart Baum und Peter Gauweiler miteinander? Oder Gregor Gysi und Jens Jessen? Ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob die alle mit Roger Willemsen konnten.
Ich habe die Abenteuerlust nur en passant erwähnt. Das ist nicht richtig. Auch das Wort Bildung habe ich nur erwähnt, um es wieder beiseitezuschieben. Dabei gibt es ein dem Germanisten Roger Willemsen zutiefst vertrautes Genre, in dem beides zusammen kommt. Der deutsche Bildungsroman lebt von der Abenteuerlust seines Helden. Er erwirbt sich seine Bildung gerade nicht im Studentenheim, sondern beim Gang durch die Welt. Der Bildungsbürger ist einer, der vor ihr in die Bücher geflohen ist. Roger Willemsen hat seinen Bildungsroman gelebt. Nun ist er mittendrin gestorben. Ich trauere um ihn.
Aus: Frankfurter Rundschau (online), 08.02.2016. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Dass Roger Willemsen Das Blättchen kannte und es für wert hielt, uns schon vor längerer Zeit die Zusage für ein Treffen im Rahmen unserer Reihe „Im Gespräch mit …“ zu geben, ehrte uns. Dass sich trotz mehrfacher Anläufe die praktische Gelegenheit dazu noch nicht gefunden hatte, stimmt uns doppelt traurig.
Die Redaktion
Schlagwörter: Arno Widmann, Roger Willemsen