19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Querbeet (LXIX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Sommer-Erotik unter Birken, Saisonkneipe am Wasser, Hauptstadtgefühl in grau…

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Ein Stück wie gemacht für dieses Haus – wie auch sein Titel: „Das Lächeln einer Sommernacht“. Als hätten die Autoren das Cuvilliés-Theater vor Augen gehabt, diesen betörenden Rokoko-Traum in Rot-Weiß-Gold, den sich ein Wittelsbacher vom Architekten Francis de Cuvilliés in seine Münchner Residenz hatte zaubern lassen. Ist lange her. Das besagte Lächeln kam später, viel später. Mit Ingmar Bergmans Film, der da anno 1955 mit Liebenden und Turtelnden, Verführern und Verführten, Betrügern und Betrogenen einen erotisch knisternden Reigen inszenierte und dabei gelassen lächelnd Grüße aussandte an die Herren Shakespeare, Tschechow, Strindberg.
Knapp zwei Jahrzehnte später entdeckte der amerikanische Komponist und Texter Stephen Sondheim Bergmans filmisches „Kammerspiel über eine Gruppe Eingeschlossener“, die sich auf einem aristokratischen Landgut einfindet, um dort ihr Glück zu suchen, was eine irre-wirre Folge von so lust- wie schmerzvollen Dreiecksgeschichten auslöst. Da geht es in jeder Beziehung (beziehungsweise Nicht-mehr-Beziehung) hoch her; nicht zuletzt auch hinsichtlich rhetorischer Kontakte, die nur so sprühen vor Witz, Schärfe – und Lebensweisheiten.
Für Sondheim die ideale Vorlage für seine exzentrische Idee, ein Musical komplett im Dreivierteltakt zu schreiben; immerhin dreht sich ein Walzer nicht nur flott in die Seligkeit, sondern genauso rasch in den Abgrund. Aus der originellen Idee wurde ein Broadway-Hit und schließlich der Welterfolg „Das Lächeln einer Sommernacht“. Und der blieb eine fantastische Einzigartigkeit: Ein Musical ganz ohne die Effekthascherei zunehmender Verlangsamung der Tempi, in die hinein mit Stimmband-Stoßkraft ohrenbetäubend und bis an die Grenze zur Atemnot gedehnte Kehlkopf-Grellheiten gewuchtet werden. Und für was sonst trifft der Begriff Kammermusical als für diese romantisch grundierte, zugleich ätzend sarkastische, melancholisch walzernde Petitesse.
Und genau das inszenierte Josef E. Köpplinger auf der mit Tschechow-Birken dekorierten Bühne, die unentwegt wie in Max Reinhardts epochaler „Sommernachtstraum“-Inszenierung rotiert in Cuvilliés’ märchenhaft schimmernder Rokoko-Schatulle. Köpplinger, seine Ausstatter Rainer Sinell und Marie-Luise Walek sowie Dirigent Jürgen Gorlup haben ein feines Händchen für das sich Drehende und Wendende der Stimmungen und Situationen. Und noch dazu ein toll singendes und spielendes Ensemble sowie das so außerordentlich passende Ambiente: Ein besonderer Glücksfall für diese Produktion des glorreichen Staatstheaters am Gärtnerplatz, das just im Jubeljahr seines 150. Bestehens aufwändig saniert wird. Was für ein Ausweichquartier für diese intelligent und charmant unterhaltende Inszenierung einer Preziose des komödiantischen Musiktheaters.

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Lutz Seiler gelang mit seinem philosophisch vielschichtigen, raffiniert verschachtelten Roman „Kruso“ über das „Wendejahr“ 1989 der ganz große Durchbruch: Der Deutsche Buchpreis 2014! – Erstmals hörte ich vor vielen Jahren von diesem Autor, Jahrgang 1963 und aus Thüringen stammend, als er beim Poetenseminar der FDJ in Schwerin mit beeindruckender Dichtkunst auffiel. Heute lebt er in Stockholm sowie in Wilhelmshorst am Rand von Potsdam. Sein Romanheld Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, kommt direkt von dort. Aus dem „Städtchen“ Nr.7, einem der einst abgeschotteten Areale, in dem die höheren Chargen der Sowjetarmee wohnten: Krusos Vater war General. Und seine Mutter – bizarre Mischung – Zirkusartistin, die bei einem Auftritt stürzte und ums Leben kam.
Der lokale Bezug war natürlich nur witzige Nebensache für das Potsdamer Hans-Otto-Theater, Seilers surreal verrätselten und mythologisch aufgeladenen Text auf die Bühne zu bringen. Dagmar Borrmanns geschickte Stückfassung konzentriert sich klugerweise auf die Story – eben die (DDR-)Aussteiger-Geschichte. Wobei die weit wuchernden poetischen Arabesken komprimiert sind auf ein Maß allgemeiner Verständlichkeit.
Hauptort des Geschehens ist die Ostseeinsel Hiddensee; seit jeher Refugium für Individualisten und Anspruchsvolle (Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Walter Felsenstein, Gret Palucca). Zu DDR-Zeiten tummelten sich hier Privilegierte (das Quartier war eine Kostbarkeit), zunehmend aber auch Bohemiens aller Arten sowie Alternativies und Fluchtwillige. Die dänische Insel Moen war bei gutem Wetter – immerhin in Sichtweite.
„Kruso“ handelt von Leuten, die die DDR mental und geistig längst hinter sich haben und (Geheimtipp!) in der Saisonkneipe „Zum Klausner“ auf der Nordspitze der Insel abtauchen. Dort führt Kruso das harsche Regiment. Er ist heimlicher Dichter und illegaler Quartiermeister für (vornehmlich weibliche) Inselbesucher ohne amtlichen Erlaubnisschein fürs „Grenzgebiet“. Vor allem aber ist der stramme Schöngeist Häuptling der „Eskas“, der Saisonkräfte (= S.K.), die den überstrapazierten volkseigenen Gastronomiebetrieb für mageren Lohn und hoffentlich fettes Trinkgeld am Laufen halten. Sie alle haben dem sozialistisch geordneten Festland den Rücken gekehrt und suchen auf der Insel ihr bescheidenes (für Kruso: gigantisches) Reich der Freiheit. Oder den lebensgefährlichen Absprung zur „Republikflucht“ übers Wasser.
Regisseur Elias Perring entfesselt in der von bühnenhohen Bretterwänden umstellten „Klausner“-Welt ein schlingerndes Typenkarussell von Spinnern, Träumern, Sonderlingen. Da blühen Freund-, Lieb- und Feindschaften, explodieren Aggressionen, Einsamkeits-Koller, Wirklichkeitsfluchten, wabern Ich-Suchereien, Daseins-Utopien oder Träume von totaler Entgrenzung und goldenem Glück. Im Zentrum dieses Panoptikums steht die zur Herzensfreundschaft sich weitende Beziehung zwischen dem (all)mächtigen Mannsbild Kruso (Raphael Rubino) und dem auf der Insel im „Klausner“ und schließlich bei Kruso Schutz wie Rettung suchenden Ed, einem am Leben verzweifelnden Ex-Literaturstudenten aus Halle an der Saale (Holger Bülow).
Und in dieser aparten Endstation Sehnsucht, die mit dem Mauerfall vergeht, wispert immerzu und über alle Zeitenwenden hinweg ein Grundton; nämlich der von Kruso getragene Diskurs über die wahre Freiheit, die allein in unfreien Verhältnissen gedeihe. Die Illusion von Freiheit habe ihren (hohen) Preis; die wirkliche jedoch, also die innere, sei unbezahlbar. So etwa mäandert diese bitter-sarkastische, komisch-groteske, mit Dicht- und Sangeskunst garnierte, mit Wehmut und Rohheit durchsetzte Saga dahin: Voll von ewigen Wirrungen, Weisheiten und bleibendem Wähnen.

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Vor gut drei Jahrzehnten klapperte die Autorin Irina Liebmann Wohnungen in einem Ostberliner Mietshaus ab, kam mit den unterschiedlichsten Leuten dort ins Gespräch und machte aus diesen Plauderstunden ein anrührendes Büchlein, das von den Lebensschicksalen dieser DDR-Normalos erzählt. Jetzt tat die Autorin Jelena Schulte das gleiche und klingelte an Türen ihr fremder Leute nunmehr in Ganz-Berlin, um deren Lebenswege zu erfahren. Das vermischte sie mit Liebmanns Recherchen und arrangierte daraus den intimen Theaterabend namens „Wodka-Käfer“, den Brit Bartkowiak mit viel Humor, Ironie und sanfter Einfühlung in der Box, dem Studio des Deutschen Theaters, inszenierte.
Dieses Patchwork Berliner Miniaturen erzählt viel von Gegenwart und jüngster Vergangenheit dieser Stadt: Psychogramme, soziale Skizzen, die sich zu einem pittoresken Gesamtberliner Daseinspanorama fügen. Die hundert locker hin getuschten Minuten präzise Beobachtung sind so unterhaltsam wie aufschlussreich, nicht nur für Einheimische und Zugereiste. Eine witzige, auch aberwitzige und im flinken, kontrastreichen Wechsel tragisch-traurige Stadtführung. Des Lebens spärlicher Glanz und heulendes Elend; Tränen lax weggesteckt. Erfolgreiche, Verlierer, Verlorene, Vereinsamte, Aufmotzer und Auferstandene, hergezeigt von einer Handvoll starker Schauspieler. Berlin-Feeling in schillernder Grau-Abstufung wie hingezaubert. Die Hauptstadt-PR sollte damit werben.