von Horst Möller
Die freudenleer sich durchs Leben mühen, auf sie hat sich Alexandros Papadiamantis (3. März 1851 bis 3. Januar 1911) in seinem Erzählwerk eingelassen. Wenig reich an Freuden gestaltete sich wohl auch sein eigenes Erdendasein. Bis zu seinem Tode war er lediglich in Zeitungen abgedruckt worden. Der Broterwerb als literarischer Übersetzer verhalf ihm zu einem Auskommen, das einen Eremiten inmitten der schnell wachsenden Metropole Athen karg existieren ließ. Nach einem Philologiestudium bedurfte es keines religiösen Erweckungserlebnisses, um sich der Mühseligen und Beladenen anzunehmen. Als Sohn eines auf Skiathos beheimateten Popen war er, einziger Sohn neben drei Schwestern, von Kind auf mit den Misslichkeiten der nicht nur idyllisch erlebten Inselwelt vertraut. Anflüge einer Sozialromantik, resultierend aus einem Zivilisationsschock wie etwa drei Generationen später bei Jean Giono, in dessen Geschichten über Lebensschicksale in den von Gott und den Menschen verlassenen Bergdörfern der Haute-Provence, sind bei Papadiamantis kaum zu finden. Eindringlich zeichnet er das Los derer, die nichts unter der Sonne ihr eigen nennen, die die meisten Lasten zu tragen haben und deren Kummer und Leid niemals enden. Häufig sind Mütter und Großmütter seine „Heldinnen“. Sie galten nichts in einer Welt, in der der Mann sich als Haupt des Weibes verstand und seine Zeit am liebsten im Kafeneion zubrachte. Es war ihrem Geschick überlassen, dass der „Ernährer“, wenn er denn einer geregelten Arbeit nachging, auch zu dem ihm zustehenden Lohn kam und diesen nicht verschwendete. Und wenn gar kein Mann oder Sohn im Haus war, was bei einem Seefahrervolk nicht so selten vorkommt, waren diese Frauen darauf angewiesen, bis zur Erschöpfung anderer Leute Wäsche zu waschen, in den Mühlen um den Bodensatz aus den Ölpressen zu betteln, in den Wäldern dürres Holz zu sammeln und auf halsbrecherischen Ziegenpfaden die Bündel nach Hause zu schleppen, Ähren zu lesen – womöglich auf einer mehr gesegneten Nachbarinsel, was bedeutete, sich der Beschimpfung als „Schiffsweib“ auszusetzen, da es als Schande galt, wenn eine Frau übers Meer fuhr. Not hat viele Gesichter.
Hadoula heißt in „Die Mörderin“ die mit ihrem Schicksal hadernde, fast sechzigjährige verwitwete Matriarchin. Nächtelang wacht sie am Wochenbett ihrer erschöpften Tochter über das kränkelnde, vom Husten gepeinigte, bereits notgetaufte Neugeborene, das nicht ahnt, welche Mühen es bereitete und noch nichts von der Sorgenlast wissen kann, die es zu tragen hätte, falls es am Leben bliebe. Von unbezwingbarer Müdigkeit übermannt, bedrängen sie die Bilder bitterer Erinnerungen an ein endloses Geplagtsein. Ihr Verstand verwirrt sich, sie merkt nicht mehr, was sie tut, stopft dem Kindchen den Finger in die Kehle und drückt ihm den Hals zu. Dennoch ist es nicht die Tat einer Verhaltensgestörten. Hadoula ist dank ihrer Kenntnis der Kräfte heilender Kräuter eine bewährte Nothelferin. Als solche hat sie erfahren, dass häufiger Knaben, die zärtlich geliebten und einzigen Söhne, vorzeitig aus dem Leben gerissen werden, wohingegen die kleinen Mädchen sieben Leben haben. Und es raubt ihr den Verstand, dass es ausgerechnet die Mädchen der ärmeren Leute sind, die diese sieben Leben haben. Der einen Untat, die zunächst so scheint, als sei sie einem Aussetzer geschuldet, folgen weitere – dann jedoch begangen mit vollem Bewusstsein als „Akt der Nächstenliebe“, mit Vorsatz und in beklemmend sich hochschraubender Dramatik. Es ist ihr ein Leichtes, sich vor den Bütteln, die sich ihr daraufhin an die Fersen heften, zu verbergen, da sie wie keine andere die Schlupflöcher auf der Insel kennt und sich auch auf genügend Fluchthelfer verlassen kann. Was ihr nicht erreichbar ist, stellt das eigentliche Verhängnis dar. Weitaus panischer getrieben als von den Hütern des Gesetzes, sucht sie dem eigenen Gewissen zu entfliehen. Auf einem kleinen, wellengepeitschten Felsen vor der Steilküste hat sich in der Einsiedelei des „Heiligen Erlösers“ der alte Vater Akakios niedergelassen, ein gestrenger Geistlicher, der die Gabe besitzt, Gedanken zu lesen, und der die Beichtenden dazu bringt, ihre Seele vor ihm auszubreiten. Hin zu ihm gelangt man, wenn bei Ebbe diese Felsklippe zur Halbinsel wurde. Als sich Hadoula auf den Weg zu ihm macht, wird sie unversehens von der herannahenden Flut überrollt.
Dass Papadiamantis eine Kindsmörderin nicht der Gerichtsbarkeit unterwirft, ist aus dem ergreifend geschilderten Tun verstehbar, dessen Beweggründe sich einer juristischen Klärung entziehen. Hierin denkt er seiner Zeit weit voraus, zivilisatorischer Fortschritt hat inzwischen immerhin individuelle Geburtenregelung straffrei möglich gemacht. Heute immer noch und rigoroser als jemals zuvor stellt sich das eigentliche Problem, nämlich sein Leben lebenswert und selbstbestimmt ohne äußeren Zwang gestalten zu können. Abgesehen von der staatlichen Autorität, stellt Papadiamantis geradezu ketzerisch auch die Rolle der Kirche in Frage, wenn er die Sünderin keine Vergebung vor Gott erlangen lässt. Der sozialdarwinistische Widersinn, dass sozial schwache Glieder der Gesellschaft, die sich schneller reproduzieren als die besser situierten Klassen, im allgemeinen Interesse zurückgehalten werden müssen, ließ sich nicht überzeugender zurückweisen als mit dieser Gestalt in „Die Mörderin“. Wenn vom schrecklichen Grimm des Zorns der Göttinnen, die nie ruhen, bis sie verderbliche Rache an jedem geübt haben, der sündigte, in Hesiods „Theogonie“ die Rede ist, dann ist das bei Papadiamantis ein Zorn, der sich nicht gegen Hadoula richtet, sondern von den auf ihr lastenden Zwängen angestachelt wird.
Weder durch Sanktionierung individuellen Vergehens noch durch bußfertiges Bereuen, etwa einer aus Unachtsamkeit begangenen Kindstötung wie in „Die Sünde meiner Mutter“ von Georgios Visyinos (1849-1896), lassen sich Lebensumstände überwinden, aus denen Papadiamantis keinen Ausweg weist. Sehr wohl findet er allerdings einen tröstlichen Ausgleich für so viel und so unendliche Verzweiflung. In ihrer größten Bedrängnis lässt er Hadoula staunen: „In jenem Augenblick ging die Sonne auf. Ihre Scheibe schien aus den Wellen zu tauchen, weit drüben im offenen Meer, von dem Hadoula aus ihrem Versteck gerade einen Streifen sehen konnte. Über dem felsigen, echogebenden Berg, der sich in ihrem Rücken erhob, krächzten laut die Geier, und drunten im Tal, im Gestrüpp und im Wäldchen, stimmten die Vögel heitere Melodien an. Weither vom lodernden Meer brach ein Sonnenstrahl ins dichte Laub und drang durch den Efeu, der rundum das Obdach der gepeinigten Alten überdeckte. Er fiel auf den morgendlichen Tau, der den üppigen, smaragdgrünen Erdschleier benetzte, ließ ihn wie eine Unzahl von Perlen erglänzen und vertrieb mit einem Hauch von Hoffnung und Wärme jeden feuchten Schauer und alle kalte, fahle Furcht.“
Ein hohes Lied auf sein heimatliches Skiathos. Ein meisterliches Werk in einer viel Herzenswärme bezeugenden Übersetzung Andrea Schellingers.
Alexander Papadiamantis: Die Mörderin, Elfenbein-Verlag, Berlin 2015, 167 Seiten, 19,00 Euro.
Schlagwörter: Alexander Papadiamantis, Horst Möller, Kindstötung, Skiathos