19. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2016

Wucht und Anmut – Becks Basler Theater

von Reinhard Wengierek

Der Herr von der ungenierten Überrumplungs-Fraktion hätte gemeint, das Publikum ordentlich ficken zu müssen; der andere von der korrekten Pädagogik-Front wollte es streng erziehen. So geht im soliden, reformiert-protestantischen Basel die nicht ganz unerschröckliche Saga über die beiden vornehm als „schwierig“ empfundenen Amtsvorgänger von Andreas Beck, dem neuen Intendanten des prächtigen Dreisparten-Theaters der alten schönen Stadt im Dreiländereck am Rheinknie.
Beck, eine Frohnatur aus Mülheim an der Ruhr, ist seit einem Vierteljahrhundert umtriebig zugange im deutschsprachigen Bühnenbetrieb: Als Regieassistent zu Peymanns Zeiten am Burgtheater Wien, als Dramaturg fürs druckfrisch Zeitgenössische in München, Hamburg, Stuttgart. Und zuletzt als Chef vom Wiener Schauspielhaus, dem kleinen wendigen Bühnen-U-Boot in der Porzellangasse, das mit seinem behutsam gehegten Ensemble sowie spannenden Uraufführungen den weltberühmten Großkopferten an der Ringstraße erstaunlich geschickt Paroli bot. Alsbald mauserte es sich vom Insider-Geheimtipp zum weithin respektierten „Muss“ für alle Neugierigen diesseits und jenseits der Szene, was den Nestroy-Preis einbrachte, in Österreich der Ritterschlag des konkurrenzreichen Theaterwesens.
Andreas Beck, geerdet, knuffig, gehört zu den eher seltenen Theatertypen, die mit scharfer Eloquenz flugs einen Theater-Essay aus dem Hirn schrauben und zugleich einen Witz drauf machen. Obgleich herkommend vom Theoretisch-Dramaturgischen, also eher Trocknen, hat der Schlaukopf mit dem leutseligen Gemüt den feinen Nerv für eine so saftige, pragmatische und sentimentale Figur wie den Kollegen Theaterdirektor Emanuel Striese. So bleibt ihm bei all seiner Gier auf Novitäten in den Dichter-Hütten, seiner verrückten Lust aufs sagen wir Avantgardistische (Performative, Dekonstruierte, Postdramatische) doch auch die nüchterne Hellsichtigkeit, die so manch hochfahrendem Direktorat abgeht, das Dramatische, das Glutvolle und obendrein Verständliche, das gut und klar Erzählte nicht zu vergessen. Bloß angestrengt Banales oder verkopft-modernistische Abgehobenheiten weiß der moderne Konservative ganz gut auszusortieren.
Beck, gerade fünfzig, geht alles Spröde ab. Er ist ein Kommunikations-Zampano zum Anfassen, fasst aber auch ungeniert zurück – nicht nur im spartanisch gestylten Chefbüro, sondern auch draußen in Stadt und Land. Er ist gesegnet mit dem Instinkt wie dem von der Pieke auf gelernten Wissen, was – auch in geschäftlicher Hinsicht – machbar bleibt an einem fein bürgerlich geprägten Stadt-Theater, das „als ein Fixpunkt“, so sein Credo, für jedermann da zu sein habe. Beck ist der Mann für die optimale Mischung, die geschickte Dosierung der Inhalte, der Formen. Dabei sei er sich freilich nie ganz sicher, ob letztlich bei einer Aufführung die Mehrheit bloß auf etwas schaue oder tief in etwas hinein sehe. Und sagt, er stehe für eine Theaterkunst, die „Distanz und Betroffenheit, Mitleid und Erschrecken“ auslöse – die kunstvolle Einheit der Widersprüche.
Und da schwant mir, Boss Beck trägt schon auch einiges in sich von dem seiner beiden Vorgänger, unter denen das Basler Theater leicht mürrischen Munds vor sich hin trödelte: Ihm ist das frech Draufgängerische, Überrumpelnde, Herausfordernde so eigen wie das sensibel Pädagogische, Hinführende, Zumutbare. Aber eben alles mit Augenmaß, mit Feinsinn, das ist der Unterschied. Und ohne zu langweilen. – Schwierige Sache. Deshalb die Ansage: Vielfalt bieten! Opulenz! Becks erste Saison annonciert denn gleich vierzig Premieren im just runderneuerten großen Haus, errichtet in den frühen siebziger Jahren, sowie im Neubau Schauspielhaus, eine Kammerbühne, gestiftet von bis heute anonym gebliebenen steinreichen Damen der besten Basler Gesellschaft. Daneben noch zehn „Projekte“, teils unter Bürgerbeteiligung innerhalb und außerhalb der Stadtgrenze.

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Am Anfang war die Oper. Natürlich die ganz große mit Chor, Extrachor, Statisterie – und die hier gänzlich unbekannte: nämlich Modest Mussorgskys „Chowanschtschina“. Ein monumentales Epochenbild, eine scharfe Zeitanalyse aus dem alten Russland: Das elende Volk im Würgegriff der um Gewaltherrschaft intrigierenden Aristokratie und Orthodoxie – endend mit einem kollektiven Selbstmord. Was für ein Wagnis im Beginn! Ein schwerer Brocken. Ein musikalisch höchst anspruchsvolles (Dirigent Kirill Karabits), in suggestiven Bildern ausgebreitetes Historical mit erschreckendem Blick auf Gegenwärtiges (Regie: Vasily Barkhatov). Publikum und Kritik waren erschüttert. Und hingerissen.
Das Schauspiel stand dem herausfordernden XXL-Opening der Oper mit Tony Kushners knapp fünfstündigem Gesellschafts-Epos „Engel in Amerika“ nicht nach. Die „Schwule Phantasie über nationale Themen“ (Untertitel) enthält Liebestragödien unter Homo- wie auch Heterosexuellen sowie ätzend sarkastische, komisch-groteske, fantastisch überhöhte, trefflichst pointierte Sittenbilder aus der neoliberalen Reagan-Ära mit ihrer Homophobie (Aids war eben ausgebrochen). Da wuchern Bigotterie, Rassismus, religiöser Fanatismus und Minderheiten-Hass. Aber da wächst auch Widerstand. Ein fulminantes Zeitstück, das zum Klassiker wurde, den der kometengleich aufgestiegene Star unter den Jungregisseuren, Simon Stone (Jahrgang 1984), einerseits mit frappierender, lakonisch pointierter Leichtigkeit, anderseits mit immer dringlicher werdender, ja atemberaubender Intensität ausbreitet. Wie im großen Kino mit einem guten Dutzend toller Schauspieler, die im fliegenden Wechsel in ihre vielen verschiedenen Rollen schlüpfen. Eine überaus komplexe Geschichte, konkret „einfühlungsmäßig“ erzählt vom just neu formierten Ensemble. Minutenlange Ovationen! Die Stadt spricht unter der Hand, die Kritik lautstark von einem Ereignis. Es gehört unbedingt zum diesjährigen Theatertreffen nach Berlin.
Gelegenheit zur fulminanten Ensemble-Schau bietet auch Maxim Gorkis pessimistisches Konversationsstück einer geschlossenen, dabei in sich gärenden Gesellschaft russischer Intelligenzler vor Ausbruch der Revolution „Kinder der Sonne“. Regisseurin Nora Schlocker stellt die von Wodka gestützte Rederei kunstvoll aus in gediegener, um nicht zu sagen betulicher Gelassenheit bei musikalischer Untermalung von drei burlesken Instrumentalisten. Eine Kurzfassung der um Gott und die Welt sowie um Beziehungskisten kreisenden Elegie hätte es womöglich auch getan; immerhin aber: Ein Laufsteg für schauspielerische Paradestückchen.

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Zum Abschluss meiner Visite noch zwei Petitessen, die thematisch und formal extreme Bandbreite demonstrieren. Und aufstrebenden Regiebegabungen eine Plattform geben. Da wäre der gelernte Musiker Thom Luz, ein Jungspund, der im Geist vom elegisch summenden Theater-Traumtänzer Christoph Marthaler eine somnambule Paraphrase auf den (zufälligen) Erfinder der Droge LSD illuminiert (es war der Chemiker im Sandoz-Labor Albert Schramm aus der Pharmaziemetropole Basel anno 1943). Eine pittoreske Fingerübung in Sachen Surrealismus; anders gesagt: eine ziemlich plagiative Marthalerei, im bescheidenen Maße sinnstiftend. Und mit neunzig Minuten mindestens doppelt so lang wie nötig.
Anders das verwegene Spielkind der Szene Martin Laberenz, das für seine kreischend grelle Inszenierung von Eugène Labiches Spießer-Satire „Das Sparschwein“ reichlich zweihundert Minuten benötigte. Was ihm jedoch in dieser Zeit an aberwitzigster Theaterei einfällt, verschlägt einem freilich das Meckern über ein Allzuviel an Plattheit, Blödelei, Brüllerei. Gut drei Stunden rasend artistisch und bis zum irren Überlaufen zu füllen mit Spiel-Wut und -Wahnsinn, das muss diesem Show-Master erst mal einer nachmachen. Zwar auch eine artifizielle Fingerübung, aber äußerst amüsant. Und vieles versprechend. Womit wir wieder bei Andreas Beck wären, der all das eingetütet hat – mit Wucht und Anmut, Kalkül und Empathie.