19. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2016

Der Sänger von der Vogelweide

von Renate Hoffmann

Wenn das Jahr noch jung ist, herrscht zumeist kalte Witterung. Manches Mal fällt auch Schnee in unserer Gegend. Auf der Suche nach literarischer Ermutigung fand ich sie bei Walther von der Vogelweide (um 1170 bis um 1230):
„Uns hât der winter geschat über al: / heide unde walt sind beide nû val, […] Verschlafen möcht ich des Winters Zeit! / wach ich, so hab ich mit ihm meine Not, / denn seine Macht ist so groß und so weit. / Doch Gott weiß, er muss auch dem Maien weichen: / dann pflücke ich Blumen, wo Reif jetzt liegt.“
Wo aber kann man ihm begegnen, dem bedeutenden Sänger des Mittelalters, dem politisch Streitbaren, dem Dichter zarten Frauenlobs:
„Under der linden / an der heide, / dâ unser zweier bette / was, / da könnt ihr schön / gebrochen finden / Blumen und Gras. / Vor dem Walde in einem Tal, / tandaradei, / sang lieblich die Nachtigall.“
Wo also ist er zu finden, der Poete, dessen Daten zur Person vage sind, Geburtsort und Abkunft ungewiss? – In seinen Dichtungen! – Zuvörderst wohl in der „Großen Heidelberger Liederhandschrift“, entstanden wahrscheinlich um 1300 und für den Zürcher Ratsherrn Rüdiger Manesse angelegt. Sie enthält Gedichte von mehr als einhundert Autoren, allein von Walther finden sich 440 Strophen darin. Dazu in leuchtenden Farben das Abbild eines nachdenklichen Mannes in blauem Gewand, auf einem Stein sitzend, das Schwert entgürtet und zur Seite gelehnt:
„Ich sâz ûf eime Steine / und dahte bein mit beine,/ darauf setzt ich den Ellenbogen, / ich hatte in meine Hand geschmiegt / das Kinn und eine Wange.“
Für Herrn Walther gibt es bislang nur einen verbürgten Hinweis durch den Rentmeister des Passauer Bischofs Wolfger von Erla. Jener stellte eine Rechnung aus über einen Wintermantel, den der Bischof, Walthers Gönner, dem Dichter schenkte (12. November 1203 in Zeiselmauer bei Klosterneuburg): „Walther, dem Sänger von der Vogelweide, für einen Pelzmantel zwölf Großschilling.“
Die Kunst des Weitgereisten stand hoch in Gunst und Rang. In seinen Dichtwerken finden sich Orte und Namen von historischer Bedeutung. Da ist lobend von Wien, dem „wünneclichen hof“ die Rede. Nach Sprüchen zur Krönung Philipps von Schwaben (September 1198) zu urteilen, scheint er sich in dieser Zeit in Mainz aufgehalten zu haben. Ein Jahr später in Magdeburg zur Hofhaltung des Königs. Wiederholt folgt Walther Einladungen des Landgrafen Hermann von Thüringen. Auf der Wartburg trägt er seine Weisen vor. Beklagt sich jedoch über Lärm, Trunkenheit der Gäste und deren Interesselosigkeit an Poesie. – Er steht in Diensten der Kaiser Otto IV. (um 1175-1218) und Friedrich II. (1194-1250). Gleichviel, es bleibt ein saures Metier, das Dichten.
Des Vielreisens müde, bittet er Friedrich um ein Lehen. Mehrfach. Potentaten sind diesbezüglich etwas harthörig. Um 1220 wird die Bitte gewährt. Wahrscheinlich handelte es sich um eine „Laienpfründe“ des Neumünster Stifts in Würzburg. Der Sänger jubelt: „Ich hân min lêhen, al die werlt, ich hân min lêhen!“ Nun fürchte ich nicht den Februar an den Zehen.
Erneute Unsicherheit. Wo befand sich Walthers gewährte Heimstatt und wo seine Grablege? Folgt man einer Notierung des Juristen, Historikers und Chorherrn Michael de Leone (um 1300-1355), so müsste des Dichters Alterswohnsitz in oder bei Würzburg zu suchen sein und sein Begräbnisplatz in der Stadt: „Her Walter uon der uogelweide. begraben ze Wirzeburg. zv dem Nuwemunster in dem Grasehuoe.“ Leone will auch die Grabinschrift des Sängers gekannt haben (Übersetzung aus dem Lateinischen): „Der du eine Weide für die Vögel, Walther, im Leben gewesen bist, eine Blume des Ausdrucks, ein Mund der Paläste, bist nun tot. Wer’s liest, was Herrliches deine Redlichkeit enthalten kann, der spreche: Gerechter Gott, erbarme dich!“ – Nach Würzburg. Zum Neumünster und dem „Grashuoe“, dem Grashof, um der „Blume des Ausdrucks“ Ehre zu erweisen.
Mitten im Stadtgewimmel eine Insel der Ruhe – das „Lusamgärtchen“. Ehemals umschlossen vom Kreuzgang des Neumünster Kollegialstifts an der Nordseite der romanischen Basilika gelegen. Nur wenige Schritte durch die Pforte an der Martinstraße – und die wogende Unruhe des Tages weicht zurück. Eiben, Mahonien und Lorbeer, die Immergrünen. Eine Linde, das gefallene dürre Laub um sich gestreut. Walthers Gedenkstein. Schlichter rechteckiger Quader mit einer frischen Rose, verwelktem Herbstblumenstrauß und einem zerdrücktem Lorbeerkranz bedeckt. Vom Dichterkollegen des späten Hochmittelalters Hugo von Trimberg (um 1230 bis nach 1313) entlehnte man die Umschrift: „Her Walther von der Vogelweide, wer des vergaeze, der taet mir leide.“ – Die Oberfläche des Steins trägt vier Vertiefungen. Walther, so erzählt die Legende – wenig glaubwürdig, doch freundlich – habe verfügt, dass man an seinem Grabe die Vögel füttern möge. Ernst genommen über Jahrhunderte, liegen Körner in den Mulden. Amseln und Tauben tummeln sich. Sie fliegen und entfliegen über die Arkade des sehr alten Kreuzganges. Einem Teilstück der Anlage mit eigener Geschichte.
Ich stehe vor einem Bauwerk des 12. Jahrhunderts, welches seiner Einmaligkeit wegen für kurze Zeit den Literaten Vogelweide vergessen lässt und doch wundersam mit ihm verbunden bleibt. – Hier mischen sich in der Gestaltung norditalienische und im Nachklang germanisch-lombardische Einflüsse mit christlicher Symbolik. Man findet, neben anderem, Zauberknoten, Lebensbaum, Vogel- und Schlangenmotive, Palmetten und auch die sieben Planeten des geozentrischen Systems; den thronenden Christus und den heiligen Kilian. Die Säulen sind gedreht, gerundet, vieleckig. Sehr wahrscheinlich waren die „magistri comacini“ am Werk, bekannte Steinmetzen, Baumeister, Architekten aus der Umgebung des Comer Sees.
Die vier Flügel des Kreuzgangs verschwanden nacheinander in den Jahrhunderten. Im Jahr 1883 entdeckte man bei Abrissarbeiten für einen Neubau die nördliche Arkade wieder, fast unversehrt. Beinahe wäre sie für 70.000 Goldmark in die Königlichen Museen Berlin gelangt. Nach Einspruch Bayerns und Einlenkung Preußens, verblieb sie in Würzburg. Nun steht die staufische Architektur, versetzt, an der nördlichen Kirchenwand. Bestaunt und bewundert.
In Verbindung mit dem Fund lebte die Suche nach Walthers Grab wieder auf. Hinweise aus Chroniken sprachen vom westlichen Kreuzgang „bei einer hohen linde“ und „am Eingang vor der Pforte in das Neumünster Stift.“ Friedrich Friedreich, königlicher Bauamtmann, ließ am ursprünglichen Standort des Nordflügels und in der Mitte des Lusamgärtchens graben – erfolglos. Besann sich dann auf die Bemerkung „am Eingang vor der Pforte …“ und fand an eben dieser Stelle „einen großen steinernen Sarkophag, welcher in seiner ganzen Länge quer vor der Pforte am Eingang zum Neumünster gelagert. […] Und ich zweifle nunmehr nicht, […] das eigentliche Grab Walthers von der Vogelweide entdeckt zu haben.“
Untersuchungen des Skeletts ergaben, dass es sich um einen kräftigen sechzigjährigen Mann gehandelt haben müsse. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hielten ihn die Herren Professoren der Universität für den berühmten Sänger. Der Sicherheit halber zog man den „Privatdozent Dr. Virchow“ (1821-1902) zu Rate. Der hielt sich klugerweise zurück. Die Schädelteile seien beschädigt und das Alter nicht genau zu bestimmen …
Die Tauben sind davon geflogen, die Futterstellen im Gedenkstein geleert, und ich habe keinen Brosamen bei mir. Kalter Wind weht. Es wird bald Schnee geben. Im Fortgehen denke ich an Walthers Trostzeilen: „… Weizgot er lât ouch dem meien den strît: / so lise ich bluomen dâ rîfe nû lît.“