18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

BAHNHOF FÜR ZWEI
Für Eldar Rjasanow (18.11.1927 – 30.11.2015)

von Henry-Martin Klemt

Von Westen nach Osten, die Züge fahrn,
von Osten nach Westen, vorbei,
begegnen einander und halten doch
nie an auf dem Bahnhof für zwei.

Wo sie einander begegnen, schlägt
die doppelte Peitsche aus Licht
heraus aus der ewigen Dämmerung
sekundenlang nur ein Gesicht.

Dort steht noch einer, der warten kann,
vielleicht dass die Liebste bald kommt,
erwartet den Sohn aus dem Krieg zurück
oder muss selbst an die Front.

Die Züge fahren von West nach Ost
und dunkel wird’s auch im Abteil.
Von Osten nach Westen und gäb‘s ein Ziel
dann wär es der Bahnhof für zwei.

Im Halbschlaf bei jedem Schienenstoß
fragt ein Toter mich, wer ich bin.
Es fahrn auf den Worten der Dichter und
ihren Knochen die Züge dahin.

Der eine Zug heißt Erinnerung,
der andere: Was auch geschieht.
Und wo sie einander begegnen, bleibt
zwischen den Gleisen ein Lied.

Die Züge fahren von Ost nach West.
Wir trinken zum Wodka den Tschai
und hoffen noch bis zur Endstation:
Es wäre der Bahnhof für zwei.

Dezember 2015