18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

Stadtbummel

von Renate Hoffmann

Ein Wort zum Ort. Bad Neustadt an der fränkischen Saale. Hochbetagt, charakterstark und mit Besonderheiten bestückt. Carolus Magnus interessierte sich bereits für die Gegend, der günstigen Lage wegen und aus machtpolitischen Erwägungen. Er wandelte den bestehenden fränkischen Königshof in eine ostfränkische Pfalz, die er erwiesenermaßen mehrfach aufsuchte.
Die Stadt zeigte zu wiederholtem Male Haltung. Im 19. Jahrhundert forderte sie – liberal gesinnt – eine Münchner Zeitung zum journalistischen Duell. „Rhön- und Saalpost“ gegen „Das bayerische Vaterland“. Anlass der Herausforderung war die Anfeindung der jüdischen Neustädter Mitbürger. In die Geschichte aufgenommen als „Neustädter Zeitungskrieg“. Das Lokalblatt trug den moralischen Sieg davon. – Das „Bad“ vor dem Ort bescherten ihm die heilenden Solequellen. Von Justus von Liebig gepriesen als „Säuerlinge“ (Kochsalzsäuerlinge) „der vorzüglichsten Art in Deutschland.“
In Bad Neustadt eingetroffen, begebe ich mich auf die Suche nach einem Nachtquartier. „Wir haben nur noch ein Pilgerzimmer frei!“ – ? – Muss ich beim Eintritt das „Vaterunser“ hersagen? Aus Notwendigkeit und Neugier nehme ich an. Die Ausstattung ist schlicht und zweckmäßig. Und vielleicht wache ich morgen früh als weiblicher Pilgrim auf.
Über der Stadt wuchtet die Salzburg, und um den alten Stadtteil zieht eine Mauer. Sie ist vollständig erhalten und … herzförmig. (Wer’s nicht glaubt, der betrachte das Herzstück auf einem Luftbild.) Carolus Magnus, so wird romantisiert, habe von seinem Ansitz herabblickend, zu seiner vierten Gemahlin Fastrada gesagt, er werde ihr zuliebe eine Stadt in Herzform errichten lassen (Prahlerei). Als nachweislich 1232 Neustadt (nova civitas) in einer Schenkungsurkunde Erwähnung findet, war Kaiser Karl längst verblichen.
Der Mauerrundgang gestaltet sich freundlich – man hat diesbezüglich so seine Reminiszenzen … Spaziergänger, Hundebesitzer in Grüppchen und regem Austausch. Verweilbänke. Wilder Wein in Feuerrot, und das unverwüstliche Efeugerank. Ausschau und Abstiege ins Umland. Tore, Türme, kleine Pforten. Drohende Schießscharten in den Mauern und luftige Häuser obenauf. Die „Herzförmigkeit“ hat ihre Reize.
Durch das Hohntor, wahrhaft hoch hinaus gebaut, kehre ich in die Altstadt zurück. Geradenwegs zur Karmelitenkirche St. Peter und Paul, einstens zum Kloster gleichnamigen Ordens gehörend. Unscheinbar von außen, und im Inneren barocke Pracht. Ich erhalte noch Einlass, obwohl die Schließzeit näher rückt – und verhalte den Schritt. Spuren der Gotik, von schmückendem Barock überstrahlt.
Die Kloster- und Kirchengründung ließen sich die selbstbewussten Bürger, sie hatten den Baugrund gestiftet, für alle Zeiten durch eine Glockeninschrift bestätigen: DI ERBERGEN [ehrbaren] PURGER ZU DER NEVEN STAT HABEN GESTIFT DER RAINEN MAIT [das ist Maria] DIOZ GOTZHAVS DAS IST GESCHEHEN ANNO D MCCCLII [1352]. Bei guter Gelegenheit kann man es heutzutage von der Kleinen Glocke noch läuten hören.
Der Kirchenraum wartet mit Überraschungen auf. Drei Spitzbögen, die das Seitenschiff vom Hauptschiff trennen, tragen eine ungewöhnliche Bemalung. Sie wirkt räumlich. Ich frage nach und erfahre, es sei eine „illusionistische Diamantquaderung“. So nobel der Anblick, so nobel die Bezeichnung. Die ausgestaltenden Künstler hielten es ohnehin mit der Geometrie. Im Hauptschiff prägt ein großflächiges Muster aus Achtecken und Rhomben die hölzerne Kassettendecke. Hinein gestreute Blumenbuketts und Rosetten sollen an das „Paradiesgärtlein“ erinnern. Sie mildern ein wenig die geometrische Strenge.
Lust am barocken Überschwang leuchtet aus den sakralen Kunstwerken. Eine Madonnenskulptur aus Kalkstein mit schwingendem Überwurf und Kind lächelt heiter. Heiter – weil ihr der Knabe schelmisch unters Kinn greift. Die Schar der Heiligen, Begebenheiten aus Altem und Neuem Testament, Wunder und lebenspralle Geschehnisse sind in hoher Kunstfertigkeit erstanden und mit reicher Zier versehen. Viel Gold und prächtige Farben.
Auf dem Schalldeckel der Kanzel, die schon Anklänge des Rokoko zeigt, herrscht rege Bewegung. Cyrill von Alexandrien (um 375/380 bis 444) befördert Nestorius von Konstantinopel (nach 381 bis um 451), den „Erzketzer“ – ein Zweifler am Marienkult – mit kräftigem Fußtritt ins Leere. Schlechte Manieren! Das könnte Cyrill zur Läuterung das Fegefeuer eingebracht haben. Nestorius hält im freien Fall eine Schrift in der Hand, worin zu lesen ist (Latein): „Nestorius, der Abweichler, verdammt vom Konzil zu Ephesus.“ Es ist anzunehmen, dass ihm Cyrill vor dem Fußtritt diesen Beschluss an den Kopf warf.
Kapellen, Altäre, Grabmäler. Eines von ihnen lässt an Unbeschwertheit und frohem Lebensgefühl, obgleich dem Tode anheim, nichts zu wünschen übrig. Ein Ehepaar. „Ditz von Sneberck“ [Schneeberg] und „Fraw Barbara sein Hawsfraw geporn von Aufsaß“. Ditz in voller Rüstung, mit Stolz ein wappentragendes Fahnentuch zur Seite, die linke Hand am Schwertknauf, ein stattlicher Mann. Er steht auf einem Hündchen, dem Symbol der Treue. Sein Visier ist geöffnet und der Kopf zur Seite geneigt. Er schaut lächelnd zur „Hawsfraw“ hinüber. Diese Vertrautheit drückt ihm ein Grübchen in die Wange.
Barbara, in vornehmer Haube und faltenreichem Gewand, hält den „Paternoster“, eine dem Rosenkranz ähnliche Perlenschnur, in den gefalteten Händen. Ihr wohlmeinender, verständnisvoller Blick gilt dem „Hawshern“. Nirgendwo sah ich solch freundliche Übereinstimmung in Erwartung des Ablebens. – Das Paar verstarb im Jahr 1500. Am unteren Rand des Grabsteins ist es auf originelle Weise vermerkt: „X V C“ (zehn-fünf-hundert). Den Beiden konnte der Tod nichts anhaben. Sie besiegten ihn mit einem Lächeln.