von Holger Politt, Warschau
Unumwunden gibt er zu: Polen habe mit dem durchschlagenden Sieg der Nationalkonservativen (PiS) eine neue Offenheit erlangt, die es nun im Interesse des Landes zu nutzen gelte. Artur Zawisza, bis 2007 selbst führendes Mitglied der Kaczyński-Partei und dort Repräsentant des rechtskonservativen Flügels, ist heute einer der führenden Köpfe der Nationalbewegung (Ruch Narodowy). Zu den Vorbildern dieser nationalistischen Truppe gehört Jobbik – ähnlich wie in Ungarn sollen sich künftig auch in Polen größere Wählerschichten bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein durch nationalistisches Gedankengut angemessen vertreten fühlen, ohne dass die rechtsradikale Färbung da noch groß stören würde. Bislang war das vor allem ein frommer Wunschtraum, jetzt aber gelang es über einen geschickten Umweg, zehn Vertreter ins polnische Parlament zu schicken.
Der Rockmusiker Paweł Kukiz behauptet von sich, rechte Ansichten und ein linksgerichtetes Herz zu haben. Ein politisches Programm kann er nicht einmal verständlich herbeten, dennoch hat es diesen politischen Hochstapler mit einer zusammengewürfelten und stramm rechts ausgerichteten Truppe in den Sejm gespült – als drittstärkste Kraft. Einzig das Versprechen, das jetzige politische System über den Haufen zu schmeißen, brachte der Kukiz-Liste fast neun Prozent der abgegebenen Wählerstimmen ein. Unter den jüngsten und jüngeren Wählerschichten sind es sogar 20 Prozent! Mit an Bord sind zehn Vertreter der Nationalbewegung, die allesamt ihre antidemokratischen und antisemitischen Überzeugungen nicht verhehlen, zudem die Europäische Union für ein übles Konstrukt halten, das die ganze Gefahr für ihre Art von Polentum symbolisiere.
Zawisza selbst trat nicht an. Er begnüge sich mit einer dienenden Rolle, wie er kürzlich sagte. Seine Aufgabe sei vor allem das Organisieren des jährlichen Nationalen-Marsches, der seit einigen Jahren in militanter Form in Warschau immer am 11. November abgehalten wird – dem Nationalfeiertag Polens, mit dem der Wiedergründung einer unabhängigen Republik 1918 gedacht wird. Zuletzt waren es regelmäßig mehrere Zehntausend Teilnehmer, die da unter weiß-rotem Tuch für eine nationalistisch-katholische Gemeinschaft demonstrierten. Jarosław Kaczyński allerdings machte immer einen weiten Bogen um den Zawisza-Marsch, wollte auf gar keinen Fall in Zusammenhang gebracht werden.
Nach dem Unterschied zu Kaczyński befragt, sagte Zawisza gleich nach den Wahlen, man müsse abwarten, ob PiS wieder nur regieren oder sich doch ernsthaft an die Veränderung des Landes machen wolle. Er meinte die Jahre 2005 bis 2007, in denen er im Sejm noch als Abgeordneter der Regierungspartei saß. Inzwischen sei PiS gereift, sei tatsächlich in jeder Hinsicht zu einer Partei geworden, die sich den Herausforderungen der tüchtigen Staatsführung stellen könne. Zudem lasse die absolute Mehrheit im Sejm der Partei keine andere Wahl – der erste Schritt müsse die Verfassungsänderung sein, mit der endlich ein Staatsumbau eingeläutet werden könne, um schließlich die soziale Schichtung der polnischen Gesellschaft umzuwandeln. So frei heraus der Mann vom rechten Rand im Herbst 2015, in dem die antiliberalen Kräfte einen Sieg erlangten, dessen gefährlichen Konsequenzen für Polen überhaupt noch nicht abzuschätzen sind.
Die nach einer Volksabstimmung mit knappem Ausgang 1997 in Kraft getretene liberale Verfassung war der katholischen Kirche immer ein Dorn im Auge – von Anfang an. Von den damaligen verfassungstragenden Kräften sitzen nur noch die gemäßigten Agrarier der PSL im Sejm, als kleinste Parlamentsfraktion. Die den liberalen Kern der einstigen „Solidarność“-Bewegung verkörpernde Unia Wolności (Freiheitsunion) kam bereits 2001 nicht mehr ins Parlament und lebt bis heute am kräftigsten noch in der Tageszeitung Gazeta Wyborcza fort. Die linksgerichtete Demokratische Linksallianz (SLD) war damals noch auf dem Weg zur stärksten Partei im Lande, was mit einem eindrucksvollen Wahlsieg 2001 auch nachdrücklich dokumentiert werden konnte. Damals reichten über 40 Prozent der abgegebenen Stimmen zwar nicht zur Mehrheit im Parlament, aber diesen Sieg nannten alle Kommentatoren übereinstimmend einen erdrutschartigen. Und Verfassungsvater war Aleksander Kwaśniewski, einer der führenden Mitbegründer der SLD, von 1995 bis 2005 Staatspräsident, bisher der einzige im neuen Polen, der wiedergewählt wurde. Die Verfassung war also vor allem Ausdruck für die relative Stärke der Linksdemokraten von der SLD, die einen Kompromiss zustande brachten, der selbst das eher konservativ gestrickte flache Land erreichte.
Bevor 2005 PiS und die wirtschaftsliberale Bürgerplattform (PO) die SLD als stärkste Sejm-Partei beerbten, waren sich beide Rechtsparteien einig in der Ablehnung der Verfassung. Allein der manchen irrationalen Zug tragende Männerstreit zwischen Jarosław Kaczyński und Donald Tusk verhinderte schnell, dass beide Gruppierungen an dieser Aufgabenstellung zusammenfanden. So ist es im Grunde bis heute geblieben. Um die Verfassung zu ändern bedarf es im Parlament einer Zweidrittelmehrheit, die von den bisherigen Regierungsparteien PO und PSL knapp verhindert werden kann. Doch darf man dem politischen Talent Kaczynskis zutrauen, sich mit diesem Stand der Dinge nicht einfach abfinden zu wollen. Zu sehr ist ihm seit Mai 2015 der Wind der Veränderungen, der seiner Meinung nach durch das Land wehe, in die Nase gestiegen. Wie dramatisch die Situation nun geworden ist, mag folgender Vergleich zeigen, auch wenn er vielleicht hinken mag: Man stelle sich vor, bei einer Bundestagswahl hätten von den abgegebenen Stimmen fast 60 Prozent der unter 30-jährigen ihr Kreuz bei Parteien gemacht, die offen gegen das Grundgesetz zu Felde ziehen! Sollte es Kaczyński gelingen, ein solches Faustpfand in handfeste Politik zu gießen, wäre das Tor nach Budapest tatsächlich weit aufgestoßen.
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