von Mely Kyak
Montag früh. Ich stand in der Umkleidekabine. Hatte es eilig. Brauchte schnell ein Kleid. Die Musik machte düdeldidü. Wickeltechnik aus Seide. Nachtblaues Geraschel auf der Haut. Ich verhedderte mich in den Bändern und stolperte vor mich hin. Die Stimme des Verkäufers draußen vor dem Vorhang, bla bla, „Designaward, große Hoffnung am Modehimmel“, bla bla.
Dann Stille.
Eine Stimme räusperte sich und teilte über das Ladenmikrofon mit: „Sehr geehrte Damen und Herren. In wenigen Sekunden ist es zwölf Uhr. Wir laden Sie ein, in Gedenken an die Opfer der Attentate in Paris eine Schweigeminute einzulegen. Dear Customers, we invite you…“
Ich lag ja noch am Boden. Gefangen in den Bändern der neuen Modehoffnung. Von unten hob ich etwas den Vorhang hoch und schaute heraus. Gegenüber stand eine Frau im Unterhemd mit weißen Drahtbeinen in schwarzen Socken und durchlöcherte mit starrer Miene die Wand. Ich hätte gerne mehr gesehen, konnte aber nicht. Denn direkt vor meinem Vorhang stand ja noch der Verkäufer. Ich ließ den Vorhang los, der direkt auf seine schwarze Lackstiefeletten fiel. Die polierten Schuhspitzen zeigten in meine Kabine. Unbewegt starrte er auf den Vorhang zwischen uns.
Ich schwieg. Im Spiegelbild sah ich in dem Ballon aus Seide aus wie Sissi, die vor Kaiser Franz Joseph kniet und flüstert: „Ich bitte Dich, schenke mir Ungarn!“
Es gibt unterschiedliche Choreografien für Schweigeminuten. Das würdevolle Innehalten mit geneigtem Kopf. Oder das sture vor sich Hinschauen mit der Entschlossenheit eines Generals und durchgedrücktem Rücken. Besonders schön ist das gekünstelte Entsetzen mit glasigem Blick, Schweigen. Zugegeben. Das ist bereits Schweigen für Fortgeschrittene. Und es gibt dieses Schweigen, dessen Teil ich aus Versehen geworden war. Ein Außenstehender, der in die Szenerie herein geplatzt wäre, hätte auf den ersten Blick keine Schweigeminute vermutet sondern eine Schrecksekunde. Als hätte man einen Film angehalten, verharrten wir und warteten die Minute ab.
Dann endlich, düdeldidü, raschelraschel, „und Madame, gefallen wir uns?“, bla bla.
Ich versuchte heraus zu finden, was die Schweigeminute ist. Wer sie erfand. Irgendwo stand, dass die Schweigeminute eine Art Gebet für Säkulare ist. Der kleinste gemeinsame Nenner auf den sich alle Menschen einigen können, obgleich ihre Götter verschieden sind. Stehen, schweigen und gedenken ist ein Gebet ohne Gott. Seitdem bin ich ein Riesenfan von Gedenkminuten. Ich musste aber erst einmal Material sammeln. Das ist bei mir leider so. Um mein Herz zu erreichen, muss man die Umgehungsstraße über meinen Verstand nehmen. Ohne Theorie kein Gefühl. Auf diesem Weg habe ich in meinem Leben schon viele Liebhaber verschlissen. Das Lexikon ist mein Sonnenuntergang und mein Kerzenlicht.
Ach Leute, ihr merkt es! Ich will nicht über Paris schreiben. Es ist ja doch auch so. Das Ereignis passiert und innerhalb von drei Tagen ist schon alles gesagt und geschrieben. Gestern Abend am Telefon eine Freundin: Bin gespannt, wie du Paris kommentieren wirst. Ich: Gibt es denn noch offene Fragen?
Der Terror funktioniert immer auch wie ein Theaterstück. Der Drahtzieher führt Regie. Die Öffentlichkeit reagiert. Man wird, ob man will oder nicht, ein Statist in dieser Inszenierung. Alles was auf den Terror folgt, alle Reaktionen aus Politik und Gesellschaft sind Teil dieser Aufführung. Für das Terroristennetzwerk wäre die vielleicht größte Katastrophe, dass nach einem Anschlag wie dem in Paris, die Titelblätter der Zeitungen nicht reagiert hätten. Wenn die Öffentlichkeitsstrategie nicht aufgegangen wäre. Das ist natürlich utopisch. Und doch stellt sich die Frage, ob wir unsere Aufmerksamkeit in Bild und Text weniger auf den Schrecken fokussieren sollten, den die Attentäter bei uns in Europa hinterlassen. Sie wollen die europäischen Gesellschaften verwunden. Wenn diese dann ihre Wunden zeigen durch Überschriften wie „Wir trauern“ haben sie bekommen, was sie erreichen wollten.
Mich würde es als Terrorist viel mehr wurmen, wenn auf den Titelblättern der europäischen Zeitungen Not und Elend der Zivilbevölkerung gezeigt werden würde, die man eindeutig dem IS zuordnen könnte. Wenn nicht mehr westliche Journalisten abgebildet werden, deren Köpfe gleich enthauptet werden, sondern drangsalierte syrische Kinder, die tagtäglich unter den Terroristen leiden. Und dann groß drüber schreiben: Made by IS. Würde vielleicht auch den einen oder anderen Jugendlichen in Europa abbringen einen auf MC Fusselbart zu machen.
Aber mehr will ich zu dieser Sache wirklich nicht schreiben. Der IS turnt mich ab. Was mich aber auch abturnt, ist so zu tun, als wüsste ich, welches Rezept es gegen den IS gibt. Ich weiß es wirklich nicht. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Terrorismusforscher an den Universitäten hätten. Ich sagte es bereits. Meine Religion ist mein Verstand. Man muss mehr begreifen wollen.
Kiyaks Theater Kolumne. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Schlagwörter: Mely Kyak, Öffentlichkeitsstrategie, Paris, Schweigeminute, Terror