von Eckhard Mieder
Einmal lief mir in Berlin-Karlshorst ein unerzogener Hund ins Auto. Der linke Hinterlauf wurde zertrümmert. Ich fuhr den Hund und seine Besitzerin, ein etwa 17-jähriges Mädchen, zum Tierarzt. Wochen später sah ich sie zufällig wieder: Dem Hund war das Bein amputiert worden, das Mädchen hielt ihn an einer Leine, er humpelte, er lebte.
Vor Rostock flog mir mal ein Greifvogel in den Wagen. Ich sah noch, wie er sich linkerhand erhob, und war unbesorgt, dass er in unerreichbarer Höhe über die Autobahn fliegen würde. Das tat er nicht. Ich weiß nicht, warum er mir in den Kühler krachte. Ich frage mich bis heute, ob er zu schwach und zu alt oder zu krank war. Suizide bei Tieren gibt es meines Wissens nicht.
Mir taten Hund und Vogel leid, ich kann sie nicht vergessen; die grad noch davon gekommene oder die sterbende Kreatur löst, denke ich, in jedem Menschen, der Schmerz fürchtet, der liebt und gerne lebt, diesen körperlich zu spürenden Reflex aus. Als hätte es auch ihn erwischen können. Zufällig, beiläufig, und diese Ahnung verunsichert und erzeugt Mitleid, das vielleicht eine Menge Selbstmitleid ist.
Mitleiden, ohne zu leiden wie derjenige, der leidet. Ein Unwohlsein, das zu Magenschmerzen führen kann oder zu einem Gefühl, als liefe man auf Eiern, als liefe man neben sich, als sei man gespalten worden. Und doch: Es hat mich selbst noch nicht getroffen. Es ist das Leid der anderen. Und wenn ich nicht den Hund gesehen hätte, nicht den Vogel gehört hätte …
Ich habe das Foto des Knaben, der an den Strand gespült wurde, gesehen. Ich habe die vielen Fotos gesehen, die von Flüchtlingen angefertigt werden. Kinder, die in Bahnfenster geschoben werden. Alte Leute, die auf einer Autobahn laufen. NATO-Stacheldraht, der, wie ich las, in China hergestellt wird. (An Absurdität und Systemunabhängigkeit ist die Marktwirtschaft nicht zu übertreffen.) Es sind Bilder, die mir nicht unbekannt vorkommen.
Es gibt sie mit den Judentransporten bei den Nazis. Es gibt sie mit den Lagerbildern des sogenannten Jugoslawienkrieges. Es ist nur eine Frage der Zeit, da werde ich die Fotos der Transporte im Indonesien der 1960er Jahre zu sehen bekommen; in welchen Archiven stecken die zurzeit noch, bis es einem Politmagazin opportun erscheint, Auflage damit zu machen? Die Fotos aus Ruanda kenne ich schon, auch wenn da keine Bahnen unterwegs waren, sondern Nachbarn und Söldner. Gut, nicht alle Bilder, kommt schon noch Gruseliges nach. Etc. pp.
Mitleid. Mitleiden; kann ich das? Und welchen Unterschied muss ich machen zwischen einem aus dem Erdloch gezogenen Hussein, einem vor einer Betonröhre zu Tode geprügelten Gaddafi und dem amerikanischen GI, der in Mogadischu nackt und tot durch die Straßen geschleift wurde?
Muss ich diesen Unterschied machen? Warum? Weil, ah ja, aha, na klar, die einen auf der falschen und die anderen auf der richtigen Seite ihre Waffen bedienen. So eine Art sortiertes Mitleiden also. Dann warte ich mal auf den Großen Schiedsrichter.
Welchen Unterschied gibt es zwischen dem toten Jungen am Strand – erinnern wir uns noch? – und den unsichtbaren Ertrunkenen im Mittelmeer? Ich weiß nicht mal, ob es einen Unterschied gibt zwischen einer alten Frau, die sich in Schwaben aus ihrer Armut erlöst, indem sie sich aufhängt, oder einem Reichen, der sich mit einem Revolver in den Kopf schießt, weil er seine Demenz nicht erleben will.
Mitleid, Mitleiden – fast leide ich mit der Bundeskanzlerin, deren nüchternes, allseits gepriesenes, aufs Physikalisch-Autobiographische mystifizierte Getue mir seit einigen Jahren nur noch auf die Nerven geht; dass sie allmählich, stetig angepinkelt wird und langsam aufweicht in diesem medialen Urin, und dass ich ahne, wenn sie erstmal stürzt, dann stürzen sich alle auf den Kadaver. Diese Wartehaltung und dieses zugleich Herbeikommentieren – wie eklig. Da wird sie dann als Huhn in die Kühlerhauben des objektiven Journalismus krachen.
So viel Mitleid ist in mir. Mit Hund und Vogel, mit Flüchtling und Kanzlerin, GI und Diktator, Regenwurm und dem Waschbären, der neulich auf der Autobahn lag, über die ich nach Hause raste. Vielleicht habe ich gar kein Mitleid, weil ich nicht mit leide?
Schlagwörter: Angela Merkel, Eckhard Mieder, Mitleid