18. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2015

Merseburg – schrieb europäische Geschichte

von Hubert Thielicke

Merseburg und deutsch-europäische Geschichte? Auf den ersten Blick kaum zu glauben, ist die Stadt doch vor allem als Industriestandort in Sachsen-Anhalt bekannt, umgeben von solchen früheren Chemiegiganten wie Leuna, Buna und dem Mineralölwerk Lützkendorf, heute alle stark verkleinert und privatisiert. Doch – wie so oft – der erste Blick täuscht. Überquert man die Saale von der Autobahn kommend, fällt das mehrtürmige Ensemble von Dom und Schloss auf der Erhebung über dem Fluss ins Auge. Seit der Jungsteinzeit war der Berg ein beliebter Siedlungsplatz, wurde in karolingischer Zeit Grenzfestung gegenüber den jenseits der Saale lebenden slawischen Stämmen und schließlich Königspfalz unter Heinrich I., dem ersten deutschen König aus der sächsischen Dynastie. Als dessen Sohn, der spätere Kaiser Otto I., 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg die wieder mal eingefallenen Ungarn besiegte, begann eine neue, glanzvolle Zeit für die kleine Burg: Der siegreiche König gelobte, dort ein neues Bistum einzurichten. Wichtiger für die europäische Geschichte war allerdings, dass sich die kriegerischen Nomaden nun mit Gebieten an der unteren Donau zufrieden gaben und sesshaft wurden.
Gemeinsam mit Meißen, Naumburg und Zeitz unterstand das junge Bistum dem ebenfalls 968 gegründeten Erzbistum Magdeburg, wurde aber einige Jahre später wieder aufgelöst und schließlich 1004 neu begründet. Für diese Zeit stehen zwei Namen: Heinrich II. und Thietmar, Merseburger Bischof von 1009-1018. Für den König, 1014 in Rom zum Kaiser gekrönt, war Merseburg neben Bamberg die Lieblingspfalz, an keinem anderen Ort weilte er so oft. Der Hintergrund: Das Reich hatte keine eigentliche Hauptstadt und wurde von „Wanderkönigen“ regiert, die von Pfalz zu Pfalz zogen. Merseburg gehörte damals zu den zehn wichtigsten, weil es angesichts der fruchtbaren Gegend wirtschaftlich sehr leistungsfähig war und damit dem „wandernden“ Königshof ausreichende Vorräte bot.
Thietmar diente dem Herrscher nicht nur als Bischof und Berater; seine herausragende Bedeutung erlangte er auf anderem Gebiet: Seine Chronik ist die wichtigste Quelle zur Geschichte der Ottonen, insbesondere auch ihrer Ostpolitik – von Böhmen über Polen bis zur Rus. So manches interessante Detail verdanken wir ihm, beispielsweise die Ersterwähnung Leipzigs 1015. Im gleichen Jahr legte er die Grundsteine für seine Bischofskathedrale, deren Weihe 1021 er jedoch nicht mehr erlebte. Offensichtlich baute man wohl doch etwas zu hastig. In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts stürzte die Kirche zwei Mal ein und musste neu errichtet werden. Vom damaligen romanischen Dom ist heute nur noch sehr wenig erhalten, er wurde um 1500 spätgotisch überbaut.
Die Grundsteinlegung vor 1.000 Jahren ist Anlass für die derzeitige hochkarätige Ausstellung; der Dom und das benachbarte Schloss bieten den prächtigen Rahmen. Europäische Sammlungen stellten wertvolle Leihgaben zur Verfügung. Herausragend das reich mit Gold und Edelsteinen verzierte Adelheidkreuz aus dem Benediktinerkloster St. Paul im österreichischen Lavanttal, das größte erhaltene Reliquienkreuz des Mittelalters. Von dort kommt auch der Heinrich II. gewidmete prunkvolle Kaiserkelch. Diese wie auch andere fremde Exponate sollen gewissermaßen die Verluste veranschaulichen, die der ursprünglich reiche Domschatz erlitt, insbesondere in den Wirren des Schmalkaldischen Krieges, als die Fürsten – ob Katholiken oder Protestanten – Gold und Silber des Schatzes zu Münzen machten, um ihre Söldner zu löhnen. Trotz allem warten Kathedrale, Domschatz und Handschriftensammlung mit reichhaltigen Kunstwerken auf. So mit dem Heinrichsaltar aus der Werkstatt Lucas Cranachs des Älteren, mehreren Werken des „Meisters der byzantinischen Madonna“ aus Leipzig, mit Kelchen, Bischofsgewändern und vielem mehr.
Das Langhaus des Doms beherrscht das gewaltige barocke Prospekt der Ladegast-Orgel, von Franz Liszt als das „Non plus ultra der deutschen Orgelbaukunst“ bezeichnet. Sie wurde 1855 in seiner Gegenwart mit seinem ersten Orgelwerk eröffnet. Heute gehören die alljährlich im September stattfindenden Merseburger Orgeltage zu den großen Orgelfesten Europas.
Besonders beeindruckend – das Handschriftengewölbe. Ins Auge fällt die dreibändige Merseburger Bibel mit ihrer verschwenderischen romanischen Buchmalerei. Von unschätzbarer Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte ist jedoch ein eher unscheinbares Dokument: die Merseburger Zaubersprüche, niedergeschrieben in Althochdeutsch wohl von einem Mönch im Kloster Fulda des 10. Jahrhunderts. So mancher mag sich noch aus dem Deutschunterricht erinnern: „Eiris sazun idisi …“ Aber nicht nur im Mittelalter faszinierte die Magie; immerhin wurden in unseren Tagen Bücher und Filme wie „Der Herr der Ringe“ oder „Harry Potter“ zu Welterfolgen.
In der Königspfalz wurde im Hochmittelalter deutsche und europäische Geschichte nicht nur beschrieben, sondern auch gestaltet. Davon zeugt mitten im Dom die Grabplatte Rudolfs von Rheinfelden, des ersten deutschen Gegenkönigs, der zwar 1080 in der Schlacht von Hohenmölsen König Heinrich IV. besiegte, aber kurz darauf in Merseburg seinen Wunden erlag. Noch heute ein bestauntes Schaustück: seine mumifizierte rechte Hand, die ihm im Kampf abgehauen wurde. Eine große Rolle spielte die Pfalz nicht zuletzt bei der Ausformung der europäischen Staatenwelt nach der Jahrtausendwende. Zweifache Bedeutung hatte sie zum Beispiel für das gerade entstehende Königreich Polen. Einerseits versammelte Heinrich II. hier seine Heere für die Kriegszüge nach Osten, die allerdings oft mit herben Niederlagen endeten. Andererseits wurde in Merseburg 1013 aber auch feierlich Frieden geschlossen. In den nächsten Jahrzehnten verhandelten hier deutsche Herrscher auf Hoftagen mit Vertretern des Byzantinischen Reiches, Böhmens, Polens, Ungarns, Dänemarks und anderer Länder.
Fazit: Die Ausstellungsmacher haben es verstanden, das Domjubiläum zu nutzen, um die große historische Bedeutung der heute im Schatten von Leipzig und Halle stehenden Stadt ins richtige Licht zu rücken.

„1000 Jahre Kaiserdom Merseburg“, bis 9. November im Merseburger Dom, Domplatz 7,
täglich 9 bis 18 Uhr.